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Weg von den Dogmen

Sind die Schüler blöd? Die Lehrer überfordert? Der Unterricht schlecht? Was muss Berlin aus der Schulstudie Pisa lernen? Ein Streitgespräch

Das Gespräch führten SABINE AM ORDE und CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Böger, was bedeutet die internationale Schulleistungsstudie Pisa für Berlin?

Klaus Böger: Das wichtigste Signal von Pisa ist, dass wir uns viel stärker auf Kindergarten und Grundschule konzentrieren müssen. Die große Schwäche des deutschen Bildungswesens liegt in diesem elementaren Bereich. Wir müssen stärker auf die Qualität des Unterrichts achten. Wir brauchen auch mehr Ganztagsschulen, und wir müssen Kinder nichtdeutscher Herkunft viel gezielter fördern. Auch da schneiden wir im internationalen Vergleich sehr, sehr schlecht ab.

taz: Tut Berlin das Richtige, Frau Kleff?

Sanem Kleff: Das wissen wir noch nicht so genau. Bei den Verhandlungen für die Ampelkoalition waren jedenfalls Vorschläge auf dem Tisch, die zu allem kontraproduktiv sind, was Pisa zeigt. Die Versuche zum Beispiel, die Grundschulzeit in Berlin auf vier Jahre zurückzudrängen und immer mehr Gymnasien mit der Klasse fünf beginnen zu lassen, sind offensichtlich falsch. Das muss tabu sein.

taz: Warum so rechthaberisch?

Kleff: Wenn die Sache nicht so traurig wäre, könnte die GEW sich in der Tat zurücklehnen und sagen: Davor haben wir schon immer gewarnt! Pisa bestätigt, dass nirgendwo auf der Welt die Schulen sozial so selektiv sind wie in Deutschland. Das dreigliedrige System der frühen Trennung in Haupt- und Realschulen und Gymnasien führt weder dazu, das Lernen positiver zu gestalten, noch schafft es einen sozial ausgewogenen Zugang zu Bildung. Deswegen sollten wir alles, was die Dreigliedrigkeit weiter verfestigt, sein lassen. Genauso wie zum Beispiel die Maßnahme, die Zahl der Schüler pro Lehrer weiter zu erhöhen.

Sybille Volkholz: Das gibt die Pisa-Studie alles nicht her. Auch ein gegliedertes Schulsystem wie in der Schweiz erzielt bessere Noten als wir. Da liegt das Problem der deutschen und der Berliner Schule genauso wenig wie an der vermeintlichen Unterausstattung mit Lehrkräften. Diese Dogmen müssen alle über den Jordan, Frau Kleff. Der Kernpunkt von Pisa ist, dass ganz offensichtlich die Unterrichtsqualität schlecht ist. Wir werden ohne eine Qualitätsdebatte, ohne Evaluation überhaupt nicht auskommen.

taz: Sie weichen die 6-jährige Berliner Grundschule auf, Herr Böger. Ist das nach Pisa der richtige Weg?

Böger: Wir beginnen lediglich, in der Klasse 5 und 6 nach Leistung zu differenzieren. Das ist absolut notwendig, um die Grundschule zu verbessern. Dazu zählt auch, in der 3. Klasse mit Englisch eine erste Fremdsprache einzuführen. Als nächstes wird eine Stunde Mathematik und Naturwissenschaften dazukommen. Die entscheidende Frage ist aber die: Wie unterrichten wir? Bei der Didaktik und Methodik hapert es nämlich, das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis von Pisa.

Volkholz: Wir brauchen einen grundlegenden Blickwechsel in der Pädagogik. Die Vorstellung, alle Kinder lernen in der gleichen Zeit das Gleiche, prägt unseren Unterricht – das ist der Tod jeder individuellen Förderung und Pädagogik. Wir treiben doch den Schnellen gleich am Anfang die Freude am Lernen aus, weil sie sich langweilen, wenn es nicht vorangeht. Und die anderen haben zu viele Misserfolge.

taz: Was muss passieren?

Volkholz: Der Unterricht muss die Unterschiedlichkeit der Kinder in seinen Aufgabenstellungen berücksichtigen. Bei uns aber versucht man, den Lehrplan möglichst schnell abzuarbeiten.

taz: Herr Böger, haben Sie als Schulsenator überhaupt Einfluss auf die Qualität des Unterrichts?

Böger: Aber sicher. Nach der Mathematikstudie Timss von 1997 haben wir uns den Matheunterricht vorgenommen. Da konnten Sie dann an einem Nachmittag in der Carl-von-Ossietzky-Schule 600 Lehrer sehen, die sich den Kopf darüber zerbrechen, wie ihr Unterricht didaktisch und methodisch besser werden könnte. Faszinierend, man kann nicht einfach sagen, dass sich bei den Lehrern nichts tut.

Kleff: Die Frage ist doch aber, wovon Sie sich Qualität erhoffen. Die GEW glaubt nicht, dass man nur mehr Geld reinschütten muss und alles wird besser. Aber ohne ein Mehr an Ressourcen, an Personal und Geld, wird es keine Qualitätsverbesserung geben.

Böger: Natürlich brauchen wir kontinuierliche Einstellungsquoten und Schulen, die nicht aussehen wie Sauställe. Da haben wir in der Vergangenheit Fehler gemacht, sind aber dabei, das aufzuholen.

taz: Das hat die SPD auch im Wahlkampf gesagt – und zum Ersten, was an Sparvorschlägen kam, zählte der Stellenabbau – etwa beim Lehrerbildungsinstitut Lisum.

Böger: Wenn ich das höre, kann ich mich wirklich aufregen. Wenn jemand in Berlin eine Struktur verändern will, dann plustern sich alle auf, diese Strukturkonservativen. Bei der Lehrerfortbildung soll das Lisum zu einer Leitzentrale werden. Ich will die Mittel an die Schulen weitergeben. Damit die Schulen ihre Weiterbildung selbstständig organisieren können. Das gehört zu ihrer Eigenständigkeit.

taz: Wir beschreiben nur, was die Menschen wahrnehmen: Die SPD sagt, Bildung hat Priorität. Und nach der Wahl will sie genau da sparen.

Böger: Die SPD hat sich keines dieser Papiere aus der Finanzverwaltung zu Eigen gemacht: Wir werden in Bildung investieren, und wir werden die zurückgehenden Schülerzahlen nutzen, um ein Stellenpotenzial für pädagogische Verbesserungen zu bekommen.

taz: Versprochen?

Böger: Versprochen. Aber fragen Sie jetzt nicht, wie viele das sein werden.

taz: Doch, wie viele Stellen?

Böger: Da müssen wir erst die Koalitionsverhandlungen abwarten. Wir werden auch die Lehrerarbeitszeit nicht erhöhen. Es wird keine Wahllüge geben. Das kann ich Ihnen für die SPD sicher sagen. Bildung hat Vorrang, auch nach der Wahl.

taz: Pisa zeigt, dass die Kitas gestärkt werden müssen. Was muss verändert werden?

Volkholz: Die Ausbildung von ErzieherInnen muss unbedingt verbessert werden. Sie liegt unter dem Level, das für pädagogische Arbeit notwendig ist . . .

Kleff: Es geht nicht nur um das Verbessern, die Ausbildung muss grundsätzlich verändert werden.

Volkholz: . . . bei den Kindergärten könnten wir von den Engländern eine Menge lernen. So genannte „Centres of Early Excellence“ beziehen dort die Familien ganz bewusst in ihre Arbeit ein. Gerade in sozialen Brennpunkten geschieht das, und die Behörden stehen ressortübergreifend dahinter. Eltern aus bildungsfernen und sozial schwachen Schichten sollen ein positives Verhältnis zum Lernen entwickeln. Sie sollen lernen, die Kleinen zu beobachten, anzuspornen, mit ihnen zu lesen.

taz: Berlin hat doch mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus ein solches Early Excellence Centre. Herr Böger, werden Sie diese family education auch im Wedding, in Neukölln und Kreuzberg einführen?

Böger: Wir sind dabei, das aufzubauen. Wir haben auch schon sehr viele Pflänzchen in dieser Stadt, wir müssen nach Pisa nicht bei null anfangen. Ich habe mal ermitteln lassen, wie viele Kinder, die im Wedding eingeschult werden, vorher eine Kita besucht haben. Es waren über 90 Prozent. Wir haben also im Gegensatz zu anderen Bundesländern die Chance, die hohe Teilnahmequote zu nutzen, um das Lese- und Sprachproblem in den Kindergärten anzugehen. Ich will Sprachtests für Vierjährige einführen, damit wir Kinder rechtzeitig und gezielt fördern können. So wie es das „Weddinger Modell“ der Sprachstandsuntersuchungen vorgemacht hat.

taz: Aber auch bei den Kitas wird über Einsparungen diskutiert. Und über ein riesiges organisatorisches Manöver, die öffentlichen Kitas freien Trägern zu überantworten.

Böger: Die Frage, ob wir 100 oder 70 oder 50 Prozent der Kitas an freie Träger übertragen, entscheidet doch nicht, ob Kitas gut oder schlecht sind. Entscheidend ist, dass wir die Qualitätsanforderungen definieren.

taz: Dann definieren Sie mal.

Böger: Wir müssen Kitas in echte Bildungseinrichtungen verwandeln. Nicht in dem Sinn, dass wir den Kindern die Kindheit rauben. Aber die vorschulische Ausbildung muss intensiviert und verbessert werden.

Kleff: Nach Pisa ist die Kluft zwischen guten und schlechten Schülern besonders groß . . .

Böger: Da ist Deutschland schlechter als die USA, ich hätte meinen Kopf darauf gewettet, dass es andersherum ist.

Kleff: . . . und wir sehen gleichzeitig, dass die, die ganz unten landen, meist Kinder aus sozial schwachen und Migrantenfamilien sind. Die soziale Herkunft hat hierzulande große Auswirkungen. Wir müssen in Kitas und Schulen endlich wieder Chancengleichheit zum Ziel erklären.

taz: Wie wollen sie Kinder von Migranten fördern, Herr Böger?

Böger: Frau Kleff, wie viel Stellen haben wir dafür: 900? 1.000?

Kleff: Wir haben im Moment 735 Stellen. Vor zehn Jahren waren es 1.500.

Böger: Da gab es auch noch mehr Schüler.

Kleff: Nein, damals hatten wir weniger Schüler nichtdeutscher Herkunft. Jetzt sind es 78.000. Und es macht natürlich einen Unterschied in der Qualität, ob wir für ihre Förderung 1.500 Lehrerstellen haben oder 735. Das hieße mehr Zeit pro Kind, mehr Zeit um die von Frau Volkholz propagierte individuelle Förderung zu betreiben. Qualität ist eben von den Rahmenbedingungen abhängig. Ein Beipiel: Die Schulverwaltung hatte vor zwei Jahren endlich ein Rundschreiben zu Deutsch als Zweitsprache herumgeschickt. Wunderbar, alle waren sich einig. Bloß hat das in der Praxis nichts genutzt – weil die Ressourcen nicht in Deutsch als Zweitsprache geflossen sind.

taz: Noch einmal: Herr Böger, was wollen Sie konkret tun?

Böger: Bildungsferne Elternhäuser konzentrieren sich häufig in bestimmten Wohnlagen. Dort wollen wir nach dem Konzept der sozialen Stadtentwicklung Ressourcen hinleiten. Kernpunkt sollen dabei die Schulen sein, die mit zusätzlichen Stellen schwerpunktmäßig zu Ganztagsgrundschulen an sozialen Brennpunkten ausgebaut werden. Dort brauchen wir auch die vernetzten Schulen, bei denen Eltern sich einbringen können, Mütter Sprachkurse machen oder sinnvoll ihre Freizeit verbringen.

Kleff: Wir müssen mit den Eltern aus diesen Schichten auch realistisch umgehen. Es hilft nichts, Erwartungen zu formulieren, die sie nicht erfüllen können.

Volkholz: Wir müssen sie unterstützen und fordern – wie etwa an der Neuköllner Regenbogenschule. Die versucht mit ihrem künstlerischen Profil, das Selbstbewusstsein von Kindern zu fördern, ihre Wahrnehmung zu entwickeln und Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Und auch da sind die Eltern mit einbezogen. Eltern in schwierigen Lebenslagen meiden die Schule ja häufig, weil sie befürchten, Negatives über ihre Kinder hören. Die Regenbogenschule ist nachmittags offen. Sie erreicht damit allein erziehende Mütter, an die sie sonst nicht rankommen würde. Wo die familiäre Unterstützung fehlt, sollten soziale Netzwerke, Mentoren und Paten gesucht werden, die mit Kindern, gerade mit Migrantenkindern, lesen, lesen, lesen. Ich finde, das ist die positive Botschaft von Pisa: Es gibt Verbesserungschancen bei der Qualität. Und Berlin hat exzellente Beispiele dafür.

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