: „Ärztlich unverantwortlich“
Die Warnung vor der Magensonde: Mediziner kritisieren gewaltsame Brechmittel-Einsätze ■ Von Elke Spanner und Sandra Wilsdorf
Operation gelungen – Patient tot: Die Staatsanwaltschaft hat ihre 41 Drogenkügelchen, doch der 19-jährige mutmaßliche Dealer lag auch gestern noch hirntot im Koma auf der Intensivstation des UKE.
26 Mal sind in Hamburg seit Juni Brechmittel eingesetzt worden, neun Mal davon alleine an diesem Wochenende. Diese plötzliche Häufung ist möglich geworden, nachdem Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitag in Abstimmung mit den Behörden die Voraussetzungen für einen Brechmitteleinsatz abgesenkt hatten (taz berichtete). Jetzt reicht aus, wenn der Tatverdächtige eine „erhebliche strafrechtliche Sanktion“ zu erwarten hat. Bisher musste es eine Freiheitsstrafe sein, so dass das Mittel nur bei vorbestraften Dealern eingesetzt werden konnte.
Der Polizei war diese Voraussetzung zu hoch. Sie hatte beklagt, nicht die gewünschten Erfolge zu erzielen. Immer wieder hatte die Staatsanwaltschaft Brechmitteleinsätze abgelehnt: 192 Mal bis zum vorigen Wochenende.
Die Hamburger Ärztekammer forderte gestern vom Senat, die gewaltsame Verabreichung von Brechmitteln sofort zu beenden und erneuerte ihre Kritik an dem Vorgehen, das die Mediziner schon im Oktober als „ärztlich nicht zu verantworten“ bezeichnet hatten. Halte die Politik trotzdem daran fest, soll der Eingriff künftig wenigstens auf einer klinischen Station durchgeführt werden. Denn die Gabe die Brechmittels sei „nur bei qualifizierter Notfallbereitschaft mit dem ärztlichen Berufsethos vereinbar“, sagt Kammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery.
Aber auch unter Politikern gibt es Mediziner: Der CDU-Abgeordnete Dietrich Wersich findet Brechmittel zur Beweissicherung zwar verhältnismäßig, regt aber an, über Alternativen nachzudenken, wenn der „Patient“ kooperativ ist. Generell gehöre es jedoch zum Alltag des Mediziners, Menschen auch gegen deren Willen zu behandeln, beispielsweise wenn sie dement sind.
Die GAL-Abgeordnete Dorothee Freudenberg hingegen erinnert sich an ihre Zeit als Krankenhaus-Psychiaterin in den 80er Jahren: „Wenn da jemand Tabletten geschluckt hatte und deshalb eine Magensonde gelegt wurde, war das absolut nicht harmlos, da war immer auch ein Anästhesist dabei.“ Sie bezweifelt, dass ausgerechnet Rechtsmediziner genügend notfallmedizinische Routine hätten.
Der SPD-Abgeordnete und Arzt Mathias Petersen weist darauf hin, dass er schon bei der Einführung der Brechmittel auf die Risiken von Magensonden hingewiesen habe. Streicht die Sonde über den in der Speiseröhre liegenden Vagusnerv, könne das den Rhythmus des benachbarten Herzens durcheinander bringen. Herz-Rhythmusstörungen bis zum Herzstillstand sind die Folge. Vor einem solchen Eingriff würde der Patient im Krankenhaus deshalb genau untersucht und über die Risiken aufgeklärt.
UKE-Pressesprecherin Marion Schafft betont, dass beides auch zum Procedere der Brechmittelverabreichungen gehöre. Ob es bei dem Kameruner passiert ist, werden Untersuchungen ergeben. „Fluchtpunkt“ forderte gestern die Staatsanwaltschaft auf, „nicht nur gegen die vor Ort Aktiven, sondern auch gegen die Entscheidungsträger auf Seiten der Innenbehörde und des UKE“ zu ermitteln.
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