: Historiker ohne Vergangenheit
Die Geschichtswissenschaft hat lange ihren Beitrag zum Nationalsozialismus verschwiegen oder verdrängt. Zwei neue Bücher enthüllen die Verstrickungen der Historiker und die Kontinuitäten des Denkens, allen voran beim umstrittenen Werner Conze
von PETER SCHÖTTLER
Auch die Geschichte hat eine Geschichte. Auch Historiker sitzen nicht bloß am Schreibtisch oder graben nach Dokumenten. Durch ihre Publikationen, Vorlesungen und Gutachten tragen sie – wie bescheiden auch immer – zu jenen Verhältnissen bei, die sie aus der Distanz zu beschreiben beanspruchen. In welche Versuchungen und Konflikte sie diese Art von „teilnehmender Beobachtung“ stürzen kann, hat kürzlich die Debatte über die Rolle der Geschichtswissenschaft im „Dritten Reich“ gezeigt. Hatte man früher gedacht, nur eine „Hand voll Fanatiker“ hätte sich den Nazis angedient und sei mit ihnen untergegangen, konnten neue Forschungen zeigen, dass sich auch renommierte Gelehrte freiwillig an den aberwitzigsten Planungen für ein „germanisches Europa“ beteiligten – einschließlich „Entjudung“.
Nach 1945 wurde all das verschwiegen, vertuscht oder verdrängt. Nur ganz wenige murmelten etwas von „Verstrickung“. Ansonsten herrschte eisernes Schweigen. Erst seit einigen Jahren wird über dieses Versäumnis heftig gestritten. Jetzt sind zwei Bücher erschienen, die auf dem Hintergrund dieser Debatten einige der „Strickmuster“ freilegen, in denen sich die Gelehrten offenbar verhedderten.
Je nachdem, welche Netze man betrachtet, gab es verschiedene Sorten von NS-Historikern. Die Mitgliedschaft in der NSDAP war dabei nur von sekundärer Bedeutung. Sogar Walter Frank, Präsident des „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschland“ und einer der schlimmsten Fanatiker, war niemals „Pg“. Viel wichtiger waren die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“, an denen sich hunderte von Historikern beteiligten. Ihr Hauptziel: Revision der Versailler Grenzen, notfalls durch Krieg. Aus diesem aggressiven Milieu kamen Ende der Dreißigerjahre die Entwürfe für „Umvolkungsmaßnahmen“, die schließlich in den berüchtigten „Generalplan-Ost“ mündeten, der während des Krieges die Vertreibung und Vernichtung großer Teile der osteuropäischen Bevölkerung vorsah.
Daneben gab es noch ein anderes Netzwerk, das längerfristig alle anderen zu dirigieren hoffte: den Sicherheitsdienst (SD) der SS. Vor allem im Amt VII des Reichssicherheitshauptamts („Gegnerforschung“) kamen Geisteswissenschaftler zusammen, die mehr sein wollten als nur Überwachungspersonal. Sie verstanden sich als künftige „Meinungsführer“ und trieben die Radikalisierung des Regimes systematisch voran: egal ob bei der Gründung neuer Universitäten (wie in Posen und Straßburg) oder im Rahmen der „Einsatzgruppen“, die im Osten den Vernichtungskrieg anführten.
Über die Gruppe der Historiker im SD ist jetzt eine Dokumentation von Joachim Lerchenmüller erschienen, in deren Mittelpunkt der spätere Heidelberger PH-Professor Hermann Löffler (1908–1978) steht. Das Buch zeigt, wie die SD-„Intellektuellen“ von einer systematischen Unterwanderung der Universitäten träumten, aber auch wie schwer es ihnen fiel, ernsthafte Wissenschaftler für dieses Projekt zu gewinnen. Unter der Anleitung junger SS-Führer wie Franz Alfred Six und Günther Franz teilten einige Nachwuchsagenten wie Löffler die akademische Welt gleichsam unter sich auf und entwarfen in geheimen Denkschriften die Utopie einer reinen NS-Historie. Das ist erschreckend, aber auch unfreiwillig komisch. Denn diesen Autoren, die die gesamte „Zunft“ mit guten oder schlechten Noten versehen, obwohl sie selbst kaum etwas publiziert haben, ging es offensichtlich vor allem darum, Lehrstühle freizuräumen, auf die sie sich selber setzen wollten. Inmitten der geschwollenen „Parteilyrik“ finden sich lauter Namen, die jetzt als Hinweise darauf gelesen werden können, wer in den Augen des SD als „einsatzfähig“ galt und wer nicht. Allerdings sind solche Texte und Namenslisten nicht leicht zu interpretieren und bedürfen einer Kontextualisierung, die weit über den SD hinausgeht. Sonst gerät das Ganze zum Horrorkabinett einer kleinen fanatischen Minderheit. Die Wirkung solcher Übertreibungen ist immer die gleiche: Verharmlosung.
Vielleicht liegt es daran, dass sich der Herausgeber nicht entscheiden kann: Will er mit seiner Materialsammlung, deren Auswahlkriterien er übrigens nie erläutert, komplizierte Zusammenhänge beleuchten oder nur – wie im Vorwort angedeutet – schnell ein paar Archivfunde in die Debatte werfen? Diese Eile könnte manche Ungenauigkeit erklären. So wird etwa der liberale Bonner Historiker Fritz Kern in die Nähe des SD gerückt, nur weil ein SD-Mann bei ihm promoviert hat. Dabei hätte ein Blick in die Schriften von Kern genügt, um das Missverständnis aufzuklären. Besonders irritierend, ja verblüffend ist die vollmundige Bilanz, dass die „SD-Wissenschaftspolitik auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft gescheitert“ sei. Wie bitte? Wenn man einen solchen Aufwand treibt und Dokumente zum Druck befördert, sollte man wenigstens beachten: Auch wenn diese Leute wissenschaftlich „insignifikant“ waren, wie Lerchenmüller formuliert, ist es ihnen nach dem Krieg gelungen, sich gegenseitig auf Lehrstühle oder in einflussreiche Stellungen zu hieven. Wer ist da wohl gescheitert? Auch wäre genauer zu untersuchen, wie ausgerechnet diese SS-Propagandisten über Jahrzehnte die westdeutsche Aufarbeitung des Nationalsozialismus geprägt haben, indem sie an Hochschulen und in Verlagen (denken wir nur an die von ihnen gegründete „Wissenschaftliche Buchgesellschaft“!) bestimmte Themen (Hitler und den Weimarer Parteienkampf) in den Vordergrund rückten und andere (Holocaust und Vernichtungskrieg) verdrängten.
Als eigentliche NS-Geschichtswissenschaft ist seit einigen Jahren die „Volksgeschichte“ in den Mittelpunkt gerückt, die sich in den „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ (VFG) organisierte und vom SD favorisiert wurde. Nicht wenige „Volkshistoriker“ haben nach dem Krieg Karriere gemacht, wobei sie teilweise ihre alten Begriffe und Methoden in gewandelter Form weiter verwendeten. Aus „Volksgeschichte“ wurde „Strukturgeschichte“, aus „Rasse“ „Führungsschicht“, aus dem „germanischen Europa“ unser „Abendland“, das vor dem „Kommunismus“ zu schützen sei. Damit war man im „Westen“ angelangt oder bildete es sich jedenfalls ein. Die eigentliche Entnazifizierung des Denkens stand also bei vielen Historikern noch bevor. Einigen ist sie vielleicht gelungen, anderen nie. Aber wie soll man das so genau wissen, wenn ihr Bekenntnis zur Demokratie mit Schweigen und Vertuschen einherging? Hier liegt die Schwierigkeit heutiger Forschung, die diesen heimlichen „Lernprozess“ nicht einfach aus „Loyalität“ (Hans-Ulrich Wehler) unterstellen darf, sondern ihn zuallererst nachweisen, vielleicht auch „falsifizieren“ muss. Als ein erster, gelungener Beitrag dazu kann jetzt das Buch von Thomas Etzemüller über Werner Conze gelten.
Conze (1910–1986) begann seine Laufbahn als „Volkshistoriker“ und wurde 1943 zur Belohnung an die „Reichsuniversität Posen“ berufen. Nach dem Krieg wollte er von seinen nazistischen „Ausrutschern“ nichts mehr wissen und setzte zu einer zweiten Karriere an. Wie Etzemüller belegt, ging dieses Schweigen mit einer doppelten Kontinuität einher. Zeitlebens blieb Conze mit seinen Königsberger Lehrern und Freunden eng verbunden, vor allem mit Gunther Ipsen, Hans Rothfels, Theodor Schieder und dem ehemaligen SD-Mann Erich Maschke. Man half sich, wo man nur konnte. Conze vergaß auch nie seine Wurzeln in der völkischen Ostforschung, wie noch sein letztes Buch über Ostmitteleuropa beweist, das 1993 postum publiziert wurde. Wo immer Etzemüller hinschaut, die Kontinuitäten im Denkstil sind offenkundig: „Alle Texte vermitteln dem Leser untergründig eine Dichotomie, die sich in einem Komplex von Begriffen und Metaphern niederschlägt: Auf der einen Seite Ordnung, Integration, Organisation, Grenze, Nation, Heimat, Identität, ... unversehrter Körper, Homogenität, Harmonie, ordnungsgemäße Bahn, kanalisierter Fluss, Stabilität und Abwehr“. Auf der anderen Seite: „Angriff, Chaos, Revolution, Desintegration, unkontrollierte und ungeordnete Bewegung, Fremdherrschaft, Sektierertum, Vaterlandslosigkeit, Wurzellosigkeit, Flut, Überschwemmung, Unsicherheit, ... Pervertierung und Übersteigerung.“ Dies bezieht Conze auf den „Osten“.
Gleichzeitig öffnet er die Geschichtswissenschaft nach Westen, vor allem nach Frankreich; Conze ist einer der Ersten, der für eine Rezeption der „Annales-Schule“ plädiert. Auch sein Habitus passt sich den neuen Verhältnissen an: In Heidelberg avanciert er zum mächtigen, vergleichsweise liberalen Großordinarius, der über ein Heer von Assistenten und Mitarbeitern verfügt und als Sprecher einer neuen Richtung gilt, nämlich der Strukturgeschichte der „industriellen Welt“. Eine musterhafte Laufbahn. Dennoch spricht Etzemüller von einem „Untergang im Sieg“, weil die von Conze propagierte Form der Geschichtsschreibung schon bald von anderen Strömungen abgelöst wurde.
Hinzu kommt ein trauriger Befund, den dieses wichtige Buch in aller Sachlichkeit offenbart: Noch kurz vor seinem Tod hat Werner Conze alle privaten, unzensierten Aufzeichnungen und Korrespondenzen vernichtet; es gibt keinen Nachlass. Wie kann ein Historiker, der nichts zu verbergen hat, so etwas machen? Als Historiker, der mit Archivalien arbeitete, musste Conze wissen, was er tat. So muss die Frage, ob er in jeder Hinsicht mit seiner NS-Biografie gebrochen hat, letztlich unbeantwortet bleiben.
Joachim Lerchenmüller (Hg.): „Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift ‚Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland‘ “, 320 Seiten, J.H.W. Dietz, Bonn 2001, 34,80 € (68 DM)Thomas Etzemüller: „Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945“, 446 Seiten, Oldenbourg Verlag, München 2001, 49,80 € (97,40 DM)Professor Schöttler arbeitet als Historiker am Centre Marc Bloch in Berlin und hat den Band „Geschichtswissenschaft als Legitimationswissenschaft“ bei Suhrkamp herausgegeben.
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