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„Die Menschheit ist unteilbar“

Auslöschung der Armut, Konfliktprävention und Förderung der Demokratie sind für den UN-Generalsekretär die wichtigsten Aufgaben der Zukunft

„Ein Völkermord beginnt mit der Tötungeines Menschenfür das, was er ist“

von KOFI ANNAN

Eure Majestäten, Eure königlichen Hoheiten, Exzellenzen, Mitglieder des norwegischen Nobelkomitees, meine Damen und Herren!

Heute wird in Afghanistan ein Mädchen geboren werden. Ihre Mutter wird sie im Arm halten und füttern, sie hegen und pflegen, wie jede Mutter überall auf der Welt. Aber im heutigen Afghanistan als Mädchen geboren zu werden bedeutet, das Leben Jahrhunderte entfernt von dem Wohlstand zu beginnen, den ein kleiner Teil der Menschheit errungen hat. Es bedeutet, unter Bedingungen zu leben, die viele von uns in diesem Saal für unmenschlich halten würden.

Ich spreche von einem Mädchen in Afghanistan, aber ich hätte genauso gut ein Baby in Sierra Leone nennen können. Niemand heute ist ahnungslos über diese Spaltung zwischen Reich und Arm auf der Welt. Niemand heute kann sich darauf berufen, nichts zu wissen über den Preis dieser Spaltung für die Armen und Enteigneten. Den Preis zahlen sie jedoch nicht allein. Letztendlich zahlen wir ihn alle.

Die wahren Grenzen verlaufen heute nicht zwischen Nationen, sondern zwischen Mächtigen und Machtlosen, Freien und Geknechteten, Privilegierten und Erniedrigten. Heute kann keine Mauer humanitäre Krisen in einem Teil der Welt von Sicherheitskrisen in einem anderen trennen.

Wir haben das dritte Jahrtausend durch ein Feuertor betreten. Wenn wir heute, nach dem Schrecken des 11. September, besser und weiter sehen, merken wir, dass die Menschheit unteilbar ist. Neue Bedrohungen unterscheiden nicht zwischen Rassen, Nationen oder Regionen. Eine neue Unsicherheit sitzt in uns allen.

In den frühen Anfängen des 21. Jahrhunderts – ein Jahrhundert, das bereits gewaltsam von Hoffnungen geläutert wurde, dass Fortschritt unvermeidlich wäre – kann man diese neue Realität nicht mehr ignorieren. Man muss sie konfrontieren.

Das 20. Jahrhundert war vielleicht das tödlichste der Menschheitsgeschichte, verwüstet von unzähligen Konflikten, unsäglichem Leid und unvorstellbaren Verbrechen. Immer wieder und wieder verübte eine Gruppe oder eine Nation extreme Gewalt gegen eine andere, oft angetrieben von irrationalem Hass und Misstrauen oder ungebremster Arroganz und dem Durst nach Macht und Ressourcen.

In Antwort darauf kamen die Führer der Welt in der Mitte des Jahrhunderts zusammen, um die Nationen zu vereinen wie nie zuvor. Ein Forum wurde geschaffen – die Vereinten Nationen –, wo alle Nationen ihre Kräfte bündeln konnten, um die Würde und den Wert jeder Person zu bestätigen und Frieden und Entwicklung für alle Völker zu sichern.

So erben wir vom 20. Jahrhundert die politische wie auch die wissenschaftliche und technologische Macht, die uns – wenn wir es nur wollen – die Chance gibt, Armut, Ignoranz und Krankheit zu besiegen.

Im 21. Jahrhundert, glaube ich, wird die Mission der Vereinten Nationen von einer neuen, tieferen Erkenntnis der Unantastbarkeit und der Würde jedes Menschenlebens definiert sein. Dies wird von uns erfordern, über den Rahmen von Staaten hinauszublicken und unter die Oberfläche von Nationen und Gemeinschaften.

Wie nie zuvor müssen wir uns darauf konzentrieren, die Lebensumstände der einzelnen Männer und Frauen zu verbessern, die dem Staat oder der Nation seinen Reichtum und Charakter geben. Wir müssen mit dem kleinen afghanischen Mädchen beginnen und erkennen, dass die Rettung eines Lebens die Rettung der Menschheit bedeutet.

In den letzten fünf Jahren habe ich mich oft daran erinnert, dass die Charta der Vereinten Nationen mit den Worten „Wir, die Völker“ beginnt. Was nicht immer erkannt wird, ist, dass „wir, die Völker“ aus Einzelpersonen bestehen, deren Anspruch auf Grundrechte zu oft dem angeblichen Interesse des Staates oder der Nation geopfert wurde.

„Die wahren Grenzen verlaufen zwischen Mächtigen und Machtlosen, Freien und Geknechteten“

Ein Völkermord beginnt mit der Tötung eines Menschen – nicht für das, was er getan hat, sondern für das, was er ist. Eine Kampagne der „ethnischen Säuberung“ beginnt damit, dass ein Nachbar über den anderen herfällt. Armut beginnt, wenn auch nur einem Kind das Grundrecht auf Bildung verwehrt wird. Was mit dem Unvermögen beginnt, die Würde eines Lebens zu achten, endet allzu oft als Katastrophe für ganze Nationen.

Aus dieser Vision der Rolle der Vereinten Nationen im nächsten Jahrhundert fließen drei Schlüsselprioritäten für die Zukunft: Auslöschung der Armut, Konfliktprävention und Förderung von Demokratie. Nur in einer von Armut befreiten Welt können alle Männer und Frauen gemäß ihren Fähigkeiten leben. Nur im Respekt für die Rechte des Einzelnen können Differenzen politisch ausgetragen und friedlich gelöst werden. Nur in einem demokratischen Umfeld auf der Grundlage des Respekts für Unterschiede und Dialog kann die Entfaltung und Selbstverwaltung gesichert und Vereinsfreiheit gewahrt werden.

Wie nie zuvor verstehen wir, dass jeder von uns den Respekt und die Würde voll verdient, die für unsere gemeinsame Menschlichkeit unabdingbar ist. Wir erkennen, dass wir die Produkte vieler Kulturen, Traditionen und Erinnerungen sind; dass gegenseitiger Respekt uns erlaubt, andere Kulturen zu studieren und von ihnen zu lernen; und dass wir aus der Kombination des Fremden mit dem Vertrauten Stärke beziehen.

Wir können das lieben, was wir sind, ohne das zu hassen, was wir nicht sind. Wir können in unserer Tradition aufblühen und zugleich von anderen lernen und ihre Lehren respektieren. Dies wird jedoch nicht möglich sein ohne Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Wenn Staaten die Herrschaft des Gesetzes untergraben und die Rechte ihrer Bürger verletzen, werden sie eine Bedrohung nicht nur für ihre eigenen Völker, sondern auch für ihre Nachbarn und überhaupt für die Welt.

Sie werden sich erinnern, dass ich meine Rede mit dem Hinweis auf das Mädchen begann, das heute in Afghanistan geboren wird. Obwohl ihre Mutter alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um sie zu schützen und zu unterstützen, ist das Risiko eins zu vier, dass sie ihren fünften Geburtstag nicht erleben wird. Ob sie ihn erlebt, ist nur ein Test unserer gemeinsamen Menschlichkeit – unseres Glaubens an die Verantwortung des Einzelnen für seine Mitbrüder und Mitschwestern. Aber es ist der einzige Test, der zählt.

Dies ist eine gekürzte Fassung der Rede, die UN-Generalsekretär Kofi Annan gestern in Oslo bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises hielt. Übersetzung: Dominic Johnson

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