Der Beweis. Oder?

Das Video ist ein starkes Indiz gegen Bin Laden. Doch wer zweifeln will, kann weiter zweifeln

von BERND PICKERT

Die US-Regierung ist sich sicher: Mit der Veröffentlichung des Bin-Laden-Videos ist der letzte Zweifel daran beseitigt, dass der abtrünnige saudische Multi-Millionär der Drahtzieher der Anschläge vom 11. September ist. „Ich denke, jeder kann sich seine eigene Meinung darüber bilden,“ sagte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, „ich weiß, was ich denke.“ Und der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani weiß jetzt: „Dieser Mann ist ganz offensichtlich die Verkörperung des Bösen, er scheint glücklich zu sein, dass er mehr Leute umgebracht hat als angenommen – das lässt einen erstaunt darüber zurück, wie tief böse sein Herz und seine Seele wirklich sind.“

Doch welche Beweiskraft hat das Band tatsächlich? Vor einem US-amerikanischen Gericht düfte es nach derzeitigem Stand vermutlich nicht verwandt werden, weil die Umstände, unter denen es in den Besitz der US-Amerikaner gelangt ist, noch immer geheim gehalten werden

Und für den, der zweifeln will, beweist selbst das, was auf dem Band zu sehen ist, gar nichts. Man stelle sich vor, das Video zeige nicht Bin Laden, sondern etwa den militanten US-Rechtsextremen William Pierce – die Selbstbezichtigungen in dem Video würden als prahlerische Trittbrettfahrerei abgetan. Und keine einzige Passage des aufgezeichneten Gesprächs gibt Informationen preis, die nur der Täter gehabt haben kann.

Familienangehörige von Ussama Bin Laden sagten gestern, sie seien nicht in der Lage, Bin Laden auf dem Video eindeutig zu identifizieren. „Ich habe das Video im Fernsehen gesehen, aber ich kann nicht sagen, ob er es ist oder ob es sich um jemanden handelt, der ihm sehr ähnlich sieht,“ sagte ein Verwandter in Syrien der Nachrichtenagentur AFP. „Es ist eine Fälschung, ganz klar,“ behauptet Muhammed Atta, der Vater des mutmaßlichen Anführers der Attentäter vom 11. September. Und Khaled Meena, Journalist der Arab News im saudi-arabischen Dschiddah, bezweifelt sogar die Echtheit des Lachens von Bin Laden: „Das ist künstliches Lachen, daran ist herumgedoktert worden. Wenn Forrest Gump John F. Kennedy treffen kann . . .“ sagte er in Anspielung auf die technischen Möglichkeiten Hollywoods.

Bundeskanzler Gerhard Schröder und Innenminister Otto Schily hingegen sehen nach der Ausstrahlung des Videos die letzten Zweifel ausgeräumt, die sie ohnehin nie hatten. Die Äußerungen Bin Ladens ließen nicht nur „eine moralische Verkommenheit in einer Form erkennen, die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt,“ (Schily), sie zeigten auch erneut die Notwendigkeit, mit Entschlossenheit gegen Bin Ladens Organisation al-Quaida vorzugehen (Schröder).

Sicher ist, dass es den USA mit der Veröffentlichung des Videos gelungen ist, verbliebene Skeptiker in eine überaus unkomfortable Position zu bringen. Wenn sich zu dem stärksten Verdacht und etlichen immerhin nicht unbedeutenden Indizien noch ein Geständnis gesellt – und das sind Bin Ladens Äußerungen – dann muss der Zweifel schon gute Gründe finden.

Die aber produzieren die USA, die mit der Veröffentlichung politische Ziele verfolgen, wiederum selbst: So bleibt unverständlich, warum die genauen Umstände, wie das Video gefunden wurde und Theorien darüber, wer es wann genau und vor allem zu welchem Zweck aufgenommen hat, nicht veröffentlicht wurden. Das Band sei, so heißt es, in einem Haus in Dschalalabad gefunden worden – wann, bleibt geheim. Dschalalabad war am 14. November in die Hände der Nordallianz gefallen.

Wenn das Video, wie die US-Regierung aufgrund eines Etiketts zu wissen glaubt, am 9. November in Kandahar aufgenommen wurde und spätestens am 30. November schon US-Präsident George W. Bush vorgeführt worden sein soll, warum wurde dann fast zwei weitere Wochen mit der Veröffentlichung gewartet? Der Wunsch nach einer gesicherten Übersetzung allein kann diese lange Frist nicht erklären – vor allem nicht angesichts des weltweiten Drucks auf die USA, schlüssige Beweise vorzulegen. Und warum lässt Bin Laden so ein Video einfach herumliegen? Immerhin hatte er selbst noch in seiner ersten, schriftlichen Stellungnahme kurz nach dem 11. September die Anschläge zwar begrüßt, gleichzeitig aber erklärt, ihm sei die Ehre nicht zuteil geworden, daran mitzuwirken. Um Schuld im juristischen Sinne kann es ihm dabei nicht gehen – er stand auch vor dem 11. September ganz oben auf der Fahndungsliste der USA.