: Bonn–Kreuzberg
Saufen rund um die Uhr, Typen, die seit Jahren von der Stütze leben, Fußball im Görli, Einkaufswagen klauen bei Bolle und die Kneipen von Blixa Bargeld: Für einen jungen Provinzler war Berlin-Kreuzberg in den Achtzigerjahren ein richtiger Sehnsuchtsort
von JÜRGEN KIONTKE
Als Kreuzberg noch so etwas wie das Synonym für Berlin war – zumindest für ein paar kleine Schüler eines Bonner Gymnasiums, war es der große Traum: nach Kreuzberg ziehen. Da gab’s die Typen, die vor dem Bund abgehauen waren: Mann, mit 17 wohnten die in Kreuzberg. Und die erzählten die schrägsten Dinge: Arbeite bei Grieneisen als Leichenwäscher, 50 Mark pro Stunde, überall Hardcore-Autonome, null Sperrstunde, ich hab ’ne Wohnung, die kostet hundert Mark Miete für neunzig Quadratmeter. Und du wohnst noch bei den Eltern auf sechs.
Wir hatten Schiss vor der großen Stadt, dem Umzug. Den lebten wir dann an den Neuberlinern aus, wenn sie auf Besuch waren: Na jetzt, wo der in Kreuzberg wohnt, ist der aber arrogant geworden. Scheißberliner. Das tat der Kreuzberg-Bewunderung allerdings auch wieder keinen Abbruch: Das wäre doch ein Lebenstraum, dorthin ziehen, den großen Mann markieren. Aber, wie gesagt.
Stattdessen kamen wir zu Besuch. Das erste Mal auf Klassenfahrt nach Berlin, zehnte Klasse, 1980 mit Mathelehrer Lomen, der später Schulkind Netti heiratete. Da saßen wir dann irgendwo in 61 im Reisebus, und die Stadtführerin meinte, na gucken Se mal da hinten, da ham die Terroristen den Peter Lorenz über der Tür im Kabuff eingesperrt. Da, im dritten Hinterhof, ja genau. Die Kreuzberger glotzten uns derweil doof an. Kann man auch verstehen. Wir wohnten in der Pension Central, die brannte später ab. Das Abitur kam, und die Jahrgangsstufe verflüchtigte sich. Dann fing ich auch noch an, in Bonn zu studieren, so ein Scheiß.
Aber in Berlin gab’s ja Freunde, Thomas zum Beispiel, Luft- und Raumfahrttechniker an der TU. Der zog sich verrückt an; aus der Chemieindustrie hatte er sich bunte Röhren besorgt und um die Schuhe geknotet. Zu Thomas fuhr ich immer mit der Mitfahrzentrale. Einmal hat es 14 Stunden gedauert. Einmal, nach einer Sauftour, hatten wir den Schlüssel vergessen, die Wohnungstür war zu. Irgendwann ging Thomas dann mal runter in die Kneipe, „da sitzen 500 Jahre Knast zusammen“. Mit 30 davon kam er dann wieder rauf – Hotte. „Ick hab jebrummt wejen Einbruch, vor mir is keen Schloss sicher.“ Denkste. Nach einer Stunde war nicht nur Thomas’ Sparkassenkarte abgebrochen, die Tür war auch immer noch zu. Irgendwann trieben wir dann einen Ersatzschlüssel auf. Klar, dass Hotte im Knast gesessen hatte – bei jedem Bruch war der Kommissar da, bevor der was klauen konnte.
Saufen rund um die Uhr, Typen, die seit Jahren von der Stütze leben, Fußball im Görli mit umgekippten Mülleimern als Tore, Einkaufswagen klauen bei Bolle, den sie dann angezündet haben. Wer das übrigens mitgekriegt hat, schwärmt noch heute davon. Das war doch mal ein richtiger Erster Mai. Klar, die besetzen den Stadtteil, schmeißen die Bullen raus und ficken das System – vergessen die doch glatt zu zahlen beim Einkaufen. Da waren wir schon mächtig beeindruckt. Leider erzählen das die Aktivisten von damals nur, um den heutigen Randaleuren eins wie Papi reinzureiben.
In Kreuzberg stand sogar die Berliner Mauer. Da ist man dran langgelaufen und hat sich gewundert: Was es hier alles gibt. Zum Beispiel Mauertote – und zwar welche, über die nie gesprochen wurde: die auf der Westseite. Solange die den Schutzwall mitten in der Stadt hatten, fanden es Berliner Selbstmörder schick, nachts mit 200 Sachen in das Ding reinzukrachen – Tod garantiert. Loch in der Mauer auch. Die DDR-Grenzer mussten das Ding dann wieder flicken.
Ich fuhr einmal im Jahr zu Thomas. Der zog dauernd um. Irgendwann landete er bei Uli, der schreibt heute für das linke Magazin Bahamas. Bei Uli gab’s kein Badezimmer, dafür Karl-Marx-Bände ohne Ende. Gebadet wurde in der Küche, in der Plastikbadewanne.
Beim nächsten Mal wohnte Thomas in der Mittenwalder, zusammen mit seinem Kumpel Joschi, der dann später wegen einer Vaterschaftsklage nach England türmte. Bis dahin hatten die zwei nur die Formel 1 im Kopf und träumten davon, Mechaniker zu werden. „Mann, hier unten nebenan ist eine Kneipe von Blixa Bargeld!“, jubelte Thomas, als ich ankam.
Hinterher erfuhren wir, dass der angeblich drei Kneipen hat; Tatsache dürfte gewesen sein, dass Bargeld mit Kneipen nichts am Hut hatte. Der war doch schwer im Geschäft mit der Hörspieltruppe Einstürzende Neubauten – später verbesserte er sich und wurde noch mal ein passabler Gitarrist in Nick Caves Band The Bad Seeds.
SO 36, Döner, das Trash – das waren dann die Stationen des jungen Berlinbesuchers. Mensch, in dem Kino stehen ja alte Sessel rum statt Kinostühlen. Guck mal, die Kneipe ist ja im 5. Stock. Manno, eine Schwulenshow im SchwuZ – mit echten Transen. Und Homos, die einen auch noch anmachen. Kreuzberg auf Besuch – ein Klischee in echt. In Bonn machte dich keiner an. Da gab’s gar keine Schwulen. Nur Studenten.
Dann in die Kneipe, wo das Geld auf dem Tisch festgeklebt war, die Biergläser Magnetscheiben unten drunter hatten und oben in der Ecke ein Zeichentrickporno lief. Markthalle, Essen bei Ambrosius, Mehringhof. In Kreuzberg habe ich das erste Mal ein Hochbett gesehen. Mensch, gab’s hier viele Konzerte.
Damals fuhr ich den ganzen Tag in der Stadt rum und guckte mir alles an. Da gab es auch die taz, die Tageszeitung, die hatten den „Säzzer“ und die „Säzzerin“ erfunden. Das hatten die dann bei uns in der Schülerzeitung genauso gemacht oder auch im Erstsemester-Info für Germanisten. U-Bahn fahren war gut, wer saß da nicht alles drin. Und vor allem: Die U-Bahn heißt U-Bahn, weil sie unter der Erde durchfährt. Und hier? Fährt sie obendrüber.
Flohmärkte gab es, ich sag nur: Flohmärkte. Und Galerien, jede Studentin machte eine auf. In Bonn gibt es heute noch keine Galerien. Dann war der Urlaub beendet, ich fuhr nach Bonn zurück, stand in der Punk-Kneipe „Namenlos“ – gehörte übrigens einem echten Judo-Europameister, wie man sagte – rum und dachte: Nach Kreuzberg müsste man ziehen. Denn: tätowierte Kellner, Waffenbesitzer, David Bowie, Iggy Popp, Ideal, Jingo de Lunch, Marianne Rosenberg, Christiane F., Heroinstrich.
Obwohl: Nirgendwo gibt es so viele Junkies wie in Bonn! Steigen Sie mal am Bahnhof aus, da gibt es den U-Bahn-Eingang, eine große Treppe, die allen Ernstes „Bonner Loch“ heißt. Dort sitzen im Sommer 300 Drogenkranke. Dagegen ist der Platz vor dem NKZ beschaulich!
Kreuzberg hatte aber eine interessantere Kriminalität, die Delinquenten gaben sich in den Gerichtsverfahren alle Mühe, unterhaltsam zu sein - die B.Z. schrieb’s dann auf. Ein Beispiel: Zwei Sozialfälle kriegen sich in die Wolle, der eine sticht den anderen mit einem 20 Zentimeter langen Küchenmesser ab. „Herr Richter, es tut mir unendlich Leid. Er ist mein bester Freund.“ Der Mann war nur leicht verletzt worden, er wog 150 Kilo. Seine Fettschicht hatte ihn geschützt, darin blieb die Klinge stecken. Lebenswichtige Organe blieben unversehrt.
Im gleichen Jahr haben sie in der Bonner Südstadt, dem Nobelteil, zehn alte Omas abgestochen. Die Mörder wurden nie gefunden. Mein bester Bonner Kumpel traut sich bis heute nicht, mich in Berlin zu besuchen – der hat Angst, das sei zu gefährlich, weil da Kreuzberg ist, na, der hat Nerven. Ich sag nur Fortschritt: Als die Bonner Imbissbuden Gyros einführten, gab es in Kreuzberg schon Currywurst im Döner.
Einen Mythos Kreuzberg gab es für mich nicht, höchstens als Schulkind. Etwas Besonderes war es aber schon. Deswegen hatten sie es ja auch eingemauert, damit es nicht aus Versehen wegkommt. Irgendwann reichte es mir: Ich zog dann doch tatsächlich nach Kreuzberg – Anfang der Neunzigerjahre. Aber da lag es schon in Friedrichshain.
Diesen (leicht gekürzten) Text von Jürgen Kiontke entnahmen wir dem „Kreuzbergbuch“; Hrg. Verena Sarah Diehl, Jörg Sundermeier, Werner Labisch, Verbrecher Verlag Berlin, 160 Seiten, 12,27 €(24 DM); die Record Release Party findet heute Abend um 20 Uhr statt im San Remo Upflamör, Falckensteinstr. 46, Kreuzberg
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