„Wir wussten es vor Darwin“

Beginnt Gewalt, wo Konsens aufhört? Ein Gespräch mit dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty über die Beziehung zwischen Kulturen, Gewalt und sein Verhältnis zu Jürgen Habermas

Interiew THOMAS SCHÄFER

taz: Sie haben sich – unter anderem bei Ihren Diskussionen hier in Berlin – mehr oder weniger eindeutig als Anhänger der militärischen Einsätze der USA in Afghanistan zu erkennen gegeben. In Ihren Schriften vertreten Sie tatsächlich auch die These, Gewalt beginne dort, wo Konsens aufhört – gerichtet etwa gegen die „Diskursethik“ von Jürgen Habermas und deren universalistische und idealistische Orientierung. Sie teilen nicht Habermas’ Glauben an die Kraft philosophischer Theorien, sondern sehen die Dinge – etwa soziale Konflikte – stärker aus der Perspektive faktischer Gegebenheiten. Folgt denn aber wirklich aus der Feststellung, Konsens sei häufig nicht erreichbar, dass dann die Waffen zu sprechen hätten?

Richard Rorty: Ich glaube, dass die These „Gewalt beginnt, wo Konsens aufhört“ eine offensichtliche Wahrheit darstellt. Das ist kein Punkt des Streites zwischen mir und Habermas. Ich denke, auch Habermas weiß sehr genau, dass der amerikanische Bürgerkrieg ausgefochten werden musste, um die Sklaven befreien zu können – weil wir eben keinen Konsens bekommen konnten. Und ebenso, dass die Allierten in Europa einmarschieren mussten, um Hitler unterwerfen zu können – weil wir nicht instande waren, einen Konsens zu bekommen. Ich bin der Meinung, dass das ganz allgemein für jede philosophische Sichtweise gilt: Wenn man keinen Konsens erreicht, aber auch nicht aufgeben will, muss man sich eben der Gewalt bedienen.

Das sehe ich ja durchaus wie Sie. Ich finde es auch gut, dass Sie das so unumwunden aussprechen. Wo man doch insbesondere in der Philosophie gerne mit der Vorstellung lebt, wir könnten die Konflikte dieser Welt friedlich lösen, wenn wir nur hinreichend rational wären, und dann auch noch glaubt, die Philosophie könne hier einen entscheidenden Beitrag leisten. All das weisen Sie – wie ich finde zu Recht – zurück. Aber kommt nun nicht auf jemanden wie Sie das Problem zu – im Gegensatz etwa zu Habermas –, dass Sie sich fragen müssen, welche Legitimation wir nichtsdestoweniger dafür brauchen, Gewalt anzuwenden. Oder würden Sie schlicht sagen: „Es ist eben einfach unser Wille. Wenn wir etwas wollen, das wir nur mit Gewalt erreichen, dann tun wir es eben!“

Ich denke nicht, dass der Begriff „Legitimation“ hier eine besondere Bedeutung hat. Nehmen wir folgenden Fall: Wenn eine Gruppe von Leuten einen Konsens darüber gefunden hat, wie sie leben will, und nun eine andere Kraft – eine andere Nation oder Macht – es ihnen unmöglich macht, diese Lebensweise weiterzuführen, ohne in den Krieg zu ziehen, dann werden sie wohl in den Krieg ziehen. Ist das nun legitim? Ich weiß nicht, wie man diese Frage beantworten würde. Es ist halt das, was ständig geschieht. Es scheint mir so, wie wenn man sagte: Wenn ein Kind von Schlägern auf dem Schulhof geschlagen wird, ist es dann legitim, wenn es sich verteidigt? Aber ja, sicher!

Gut, dann muss ich meine Frage wohl präzisieren: Wie genau meinen Sie die Feststellung „Gewalt beginnt, wo Konsens aufhört“? Wenn Sie sie bloß beschreibend meinen, wie Sie es jetzt getan haben, dann kann man sagen: Gut, so ist es. Wir müssen es als Realität anerkennen! Wenn Sie sie aber normativ meinen sollten – also: „Wenn der Konsens endet, müssen oder sollten wir Gewalt gebrauchen!“ –, dann, denke ich, haben Sie Begründungspflichten. Oder sehen Sie das anders?

Eine Begründungspflicht zu haben, ist nichts besonders philosophisch Interessantes. Stellen wir uns vor: Wenn zum Beispiel Ghandi die Weltgeschehnisse in der Hand gehabt hätte, würde er niemals Waffen gebraucht haben – ein Fall, in dem ich vermuten würde, dass die Welt sehr viel schlechter aussähe. Ich denke, Gewaltlosigkeit hätte in den letzten 50 oder 100 Jahren nicht funktioniert. Aber ich meine nicht, dass es die Aufgabe von Philosophen ist, den Griff zur Gewalt zu legitimieren. Was Legitimation besagt, ist ja schlicht das, wenn man so will, was Historiker immer gesagt haben: „Seht euch an, was geschehen wird, wenn man keine Gewalt gebraucht!“ Ich glaube, dass die Zurückweisung von Gewalt gegen die serbischen Angriffe auf Bosnien durch die Europäer, wenn Sie so wollen, „illegitim“ war. Sie hätten Gewalt einsetzen sollen, aber sie taten es nicht. Und ich meine eben nicht, dass das eine philosophische Frage ist, sondern es ist schlicht die Frage: „Wäre es nicht besser gewesen, eine bestimmte Menge von Serben zu töten, um einen Genozid in Bosnien zu verhindern?“ Das ist eine Art von politischer Fragestellung, für die Philosophen keine große Hilfe darstellen.

Ich verstehe schon, dass Sie sich auf das Thema „Legitimation“ nicht so recht einlassen wollen. Sie vertreten ja auch in Ihren Schriften die Auffassung, dass man Legitimation in einem „höheren“, sprich: philosophischen Sinne nicht nur nicht benötigt, sondern auch gar nicht leisten kann. Und da ist ja die Differenz zu Habermas sehr deutlich, der die von uns hier erörterte Frage der Gewalt sicher im Sinne einer übergreifenden Gerechtigkeit thematisieren und gegebenenfalls legitimieren würde. Und nach dem, was Sie gerade ausgeführt haben, kann man also sagen: Ihre These „Wo Konsens aufhört, beginnt Gewalt“ ist die bloße Feststellung einer Tatsache, eine deskriptive und keine normative Aussage.

Sicherlich, sie ist rein deskriptiver Natur! Was Sie vorhin schon einmal ansprachen: Wenn Habermas und ich in diesen Dingen nicht übereinstimmen, dann darin, dass er meint: „Wir würden die anderen – unter idealen Bedingungen – überzeugen.“ Und meine Sicht dagegen ist: „Ich habe keine Vorstellung davon, ob wir sie unter idealen Bedingungen überzeugen könnten oder nicht.“ Aber wir haben uns selbst zu verteidigen. Wir müssen trotzdem unsere Werte verteidigen und unsere Zivilisation . . . Unbelehrbar, tut mir leid.

Gut, dann verschieben wir das Gespräch jetzt vielleicht zu dem Thema hin, das Sie mit der letzten Bemerkung andeuten, und das ja häufig auch den Hintergrund für das Problem der Gewalt darstellt. Ich meine das Verhältnis der „Kulturen“ zueinander. Sie wenden sich gegen einen „Multikulturalismus des ‚leben und leben lassen‘“, gegen eine „Politik der Entwicklung nebeneinander her, bei der die Menschen jeweils ihre eigene Kultur bewahren und gegen fremde Einflüsse schützen“, wie Sie in Ihrem Buch „Stolz auf unser Land“ gesagt haben. Ist an dem Konzept nicht aber durchaus auch etwas Positives? Kann man es nicht aus dem Gedanken der Perspektivenübernahme heraus akzeptieren? Was haben Sie dagegen einzuwenden?

Es gibt eine Menge Bereiche, in denen man das Prinzip „leben und leben lassen“ sicherlich praktizieren kann. Aber das sollte den Westen nicht davon abhalten, mit Blick auf andere Kulturen zu sagen: „Wenn es einen Wettstreit zwischen eurer Kultur einerseits und der konstitutionellen Demokratie inklusive den Menschenrechten andererseits gibt, dann sollten diese letzteren siegen. Es spricht ja nicht gegen sie, dass sie nicht zur Tradition eurer Kultur gehören. Denn sie gehörten ebensowenig zur Tradition der europäischen Kultur. Aber was macht das?“

Wir sollten also vor allem keinem falsch verstandenen Multikulturalismus anhängen. Sie selbst plädieren nun für eine „Romantik unendlicher Vielfalt“, in der „Wettbewerb und Streit“ zwischen verschiedenen Lebensformen herrschen sollte und jeder gegen jeden „anzutreten“ habe, und zwar „wenn nötig mit Gewalt“. Wenn Worte nichts ausrichten könnten – so sagen Sie –, wenden wir Gewalt an. Ist dieser „Darwinismus“ für Sie tatsächlich – normativ gesprochen – auch wünschenswert? Oder würden Sie einfach sagen: Wir haben eben nichts anderes zur Verfügung?

Ich glaube, dass daran nichts Darwinistisches ist. Wir wussten es auch schon vor Darwin. Ich denke, dass der entscheidende Punkt einer weltumspannenden Kultur mit Demokratie und Menschenrechten der ist, dass sie der größtmöglichen Vielfalt von menschlichem Leben und menschlichen Erfahrungen Raum gibt. Aber dass man diese Möglichkeit auch für andere Menschen offen hält, hat Vorrang vor der Notwendigkeit, sie für sich selbst zu sichern.

Und aus diesem, sagen wir, „mitmenschlichen Gefühl“ heraus soll man, wie Sie sagen, die westliche Liberalität möglichst weit in der Welt verbreiten. Was also bedeuten würde, sich irgendwo in der Welt – etwa in China – im Namen der Unterdrückten und unmenschlich Behandelten, und gegen die dort herrschende Kultur, für die Menschenrechte zu engagieren. Warum sollen die verschiedenen Lebensformen im Wettbewerb und Streit miteinander stehen? Warum soll es Gewinner und Verlierer geben?

Was ich tatsächlich meine, ist folgendes: In meiner sozialen Utopie einer weltumspannenden Kultur mit Demokratie und Menschenrechten gäbe es offensichtlich ziemlich wenig „Wettbewerb und Streit“. Die Leute würden vielmehr recht angenehm im Sinne des „leben und leben lassen“ nebeneinander existieren.