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Der Winter nach der Schlacht

Ein Sack Mehl, ein Sack Reis, zwei Kannen Sojaöl. Die Ration für einen Monat. „Das ist viel für uns“, sagt Soraya Najib. In Kabul kämpfen Hilfsorganisationen gegen Hunger und Chaos

von ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID

Zwei Hände voll Maismehl und Teeblätter: Das ist alles, was Soraya Nadjib in ihrem Küchenschrank hat. Ihre vier Kinder im Alter zwischen fünfeinhalb und elf Jahren sitzen auf ein paar lumpigen Decken auf dem Boden nebenan im Zimmer. Es ist bitterkalt, im Freien hat es Minusgrade. Die Kälte kriecht durch die Ritzen der Mauern, draußen fallen die ersten Schneeflocken. „Ich weiß nicht, wie ich die nächsten Monate überstehen soll“, sagt die 35-Jährige leise. Der kleine eiserne Ofen ist kalt, Frau Nadjib kann sich die Äste nicht leisten, die es an zahlreichen Ständen in Kabul zu kaufen gibt. Ihren Mann hat sie vor sechs Jahren im Krieg verloren, ihren Beruf als Lehrerin musste sie wegen der Taliban-Herrschaft aufgeben. „Aber zumindest meinen Kindern habe ich Lesen und Schreiben beigebracht, auch dem Mädchen“, sagt sie stolz. Von dem Lehmhaus, in dem sie wohnt, sind nur zwei Zimmer benutzbar. Die einzige Hoffnung für die Menschen in diesem ehemaligen Villenviertel im Süden der Stadt ist, etwas von den Hilfslieferungen abzubekommen. Auch Frau Nadjib will ihr Glück versuchen. Bevor sie auf die Straße geht, streift sie die blaue Burka über. „Ich fühle mich einfach sicherer“, sagt sie.

Vor dem Gebäude der UN stehen schon hunderte Menschen an: Links die Frauen, rechts die Männer. Immer wieder kommt es zu Drängeleien, die Polizei versucht mit ihren Holzknüppeln Ordnung zu schaffen. Nach drei Stunden ist Frau Nadjib an der Reihe, sie bekommt einen Berechtigungsschein für einen Kübel, vier Decken, einen Sack Weizenmehl, einen Sack Reis und zwei Kannen Sojaöl. Das muss für sie und die Kinder für einen Monat reichen. Frau Nadjib ist dankbar: „Das ist viel für uns.“ Achtzig Prozent der Bevölkerung in Kabul – eine Million Menschen – leiden nach Einschätzung der Hilfsorganisationen Hunger.

Noch schlimmer ist die Versorgungslage außerhalb der afghanischen Hauptstadt. Die meisten Straßen sind wegen der kriegsbedingten Schäden und des eingebrochenen Winters nicht mehr passierbar, Orte auf dem Landweg nicht mehr erreichbar. Die Vereinten Nationen schätzen, dass insgesamt sieben Millionen Menschen in Afghanistan nicht genug zum Essen haben. Jedes vierte Kind unter fünf Jahren stirbt an Unterernährung. Salima, die ihr Vater auf dem fünfstündigen Fußmarsch von einem Dorf nahe Kabul getragen hat, ist deutlich untergewichtig und hat Erfrierungen an den Beinen. Solche Erscheinungen sind ein neues Phänomen, mit dem die Helfer der deutschen Hilfsorganisation Friedensdorf International bisher nicht konfrontiert waren.

Die Organisation hilft seit dreizehn Jahren in Afghanistan: Sie bringt kriegsverletzte Kinder zur Behandlung nach Deutschland – und dann wieder zu ihren Eltern zurück. Fast 1.800 Kindern aus Afghanistan wurde bisher geholfen. Der am Sonntag abgeschlossene 43. Einsatz, bei dem neben 38 in Deutschland geheilten Kindern auch rund 70 Tonnen Hilfsgüter eingeflogen wurden, war von den organisatorischen Bedingungen her „der bisher schwierigste“, bilanziert der Leiter der Organisation, Ronald Gegenfurtner.

Die Probleme beginnen schon nach der Landung auf dem Flughafen Bagram bei Kabul: Es gibt keine Treppe, um aus der Maschine zu kommen. Nach langen Debatten fährt ein klappriger Lastwagen heran. Auf die Laderampe wird eine Stehleiter gestellt. Über diese wackelige Brücke balancieren die Kinder zurück in ihre Heimat.

Dass Hilfslieferungen und in Deutschland geheilte Kinder angekommen sind, spricht sich nur langsam herum. Der bisher praktizierte Weg, via „Radio Afghanistan“ zu verbreiten, dass Eltern ihre gesunden Kinder abholen sollen und die Möglichkeit besteht, kranke Kinder zur Behandlung nach Deutschland zu schicken, funktioniert diesmal nicht. „Die Sendeanlagen sind zerbombt, die alten Maschinen, die übrigens vor vierzig Jahren aus Deutschland gebracht wurden, arbeiten nicht mehr“, klagt der Chef des Senders, Enaytyllah Ramz.

Während bei früheren Einsätzen mehrere hundert Eltern mit ihren Kindern zum Stützpunkt des Friedensdorfes in Kabul kamen, erfahren diesmal durch Mundpropaganda nur einige Dutzend davon, dass die Helfer aus Deutschland im Lande sind. Dreißig kranke Kinder werden schließlich zur Behandlung mitgenommen.

Die Chance, derzeit medizinische Hilfe in einem der Kabuler Krankenhäuser zu bekommen, ist gering: Während die Klinik im Zentrum völlig überfüllt ist, sind die Betten im Spital des Roten Halbmondes am Stadtrand leer. Als die Angriffe der Amerikaner begannen, verließen die Patienten das Krankenhaus. Dann floh auch der Direktor, ein Taliban-Anhänger. Geblieben ist der Vorhang im Gang des Krankenhauses, hinter dem Frauen verschwinden mussten – als Patientinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern.

Das Personal, das seit Februar keinen Lohn mehr bekommen hat, verbringt die Zeit mit Diskussionen, die sich vor allem um die Frage drehen, ob die neuen Zeiten besser werden. Die meisten sind skeptisch: Immer wieder ist zu hören, dass viele von denen, die jetzt das Sagen haben, als Kämpfer der Mudschaheddin zwischen 1992 und 1994 für Verwüstung, Zerstörung und Gräueltaten verantwortlich waren. Außerdem stellen viele die Frage, wohin die vielen Taliban-Anhänger verschwunden sind. Nach 23 Jahren Krieg ist jeder vorsichtig: „Wer weiß, was den Mächtigen einfällt“, meint der Krankenpfleger Hamid Wali.

Die Afghanen erleben derzeit ein Vakuum, das mit dem Antritt der neuen Interimsregierung sein Ende finden könnte. „Den Bart nehme ich erst ab, wenn die neue Regierung einige Zeit im Amt ist“, meint der Arzt Abdul Marouf.

Es hat sich auch in Kabul ein Vorfall aus dem Grenzgebiet zu Pakistan von der Vorwoche herumgesprochen: Taliban-Anhänger stürmten einen Bus und schnitten – so wie zu ihrer Herrschaftszeit – jenen Männern Ohren und Nasen ab, die keinen Bart trugen. Die religiösen Krieger hatten in der abgelegenen Gegend noch nicht erfahren, dass die Taliban nicht mehr an der Macht sind.

Die Kesselflicker von Kabul haben sich dagegen schon auf die neue Zeit eingestellt: Sie stellen nicht mehr Öfen her, sondern hämmern leere Dosen und Kanister zu Satellitenschüsseln. 15 US-Dollar kosten die Empfangsgeräte am Straßenrand.

200 US-Dollar müssen für ein Fernsehgerät unbekannter Marke ausgegeben werden, das es in Mohammed Fazuls Geschäft zu kaufen gibt. Sechs Jahre war Fernsehen verboten. „Während der Taliban-Zeit haben wir auch Geräte verkauft, aber nur kleine, die man gut verstecken konnte. Das Geschäft haben wir im Keller abgewickelt“, erzählt der Ladenbesitzer. Bei den Videos sind jetzt Kung-Fu-Filme der Verkaufsschlager. Aber nur diejenigen, die für Ausländer arbeiten, können sich die schöne neue Fernsehwelt leisten.

Um zumindest einmal einen Film zu sehen, stellen sich täglich hunderte Menschen in Kabul vor dem „Cinema-Park“ an. Hier gibt es die zweitgrößte Schlange in der Stadt nach der UN-Ausgabestelle für Hilfslieferungen. Seit zwei Wochen läuft hier der indische Liebesfilm „Gott spricht“.

Auch Soraya Nadjib träumt davon, wieder einmal ins Kino zu gehen oder fernzusehen. Ihre fünfjährige Tochter hat noch nie in ihrem Leben einen Film gesehen. Aber eine einzige Kinokarte, so hat sie ausgerechnet, kostet so viel wie das Holz, das sie im vergangenen Winter zum Heizen verbraucht hat –und das sie sich in diesem Jahr nicht mehr leisten kann.

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