Gefangen zwischen 1984 und 2001

Das einzig Tröstliche am Weltuntergang scheint es zu sein, dass man seinen Zeitpunkt irgendwie berechnen kann. Das verbindet einen Nostradamus-Kalender mit einer Selbstmord-Sekte oder einem Sciencefiction-Roman. Der Kult der Verneinung wird um ein magisches Datum herum errichtet.

Das größte magische Datum der Sciencefiction war 1984, das Jahr, in dem nun wirklich aber auch alles zu spät ist. Sprache hat keinen Sinn mehr, vertrauen kann man ohnehin niemandem, in den Mauern der Bürokratie erwartet einen immer genau das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Und Big Brother wacht über das alles vermittels einer besonders perfiden Art von interaktivem Fernsehen. Ein hinreichend bekanntes Magazin mit Sciencefiction-Comics nannte sich einst 1984. Als das Jahr 1984 wirklich gekommen und keine Vision mehr war, nannte sich die Zeitschrift 1985. Aber zu wenige Leser kannten den Roman von Anthony Burgess, um den Witz zu verstehen, daher wurde schnell der neue Titel gefunden: 2001. Als auch das Jahr 2001 ganz wirklich angebrochen war, brauchte man sich um einen neuen Namen keine Gedanken mehr zu machen. Das Magazin hatte sein Erscheinen eingestellt, denn es interessierte sich niemand mehr für düstere Zukunftsvisionen und grafische Spiritualität. Man war vielmehr zu den „Star Wars“ unterwegs, und die finden ja bekanntlich in einer sehr besonderen Zeit statt, wie sie im Vorspann der Filme definiert wird: „Es war einmal in ferner Zukunft.“

Die „richtige“ Zukunft, linear und pessimistisch gesehen, findet offensichtlich in unserer populären Mythologie zwischen 1984 und 2001 statt. Davor gibt es Geschichte und danach ein unendliches Kreisen der Zeiten und Räume. 2022 mag ja womöglich „das Jahr, in dem wir Kontakt aufnahmen“, sein, aber letztendlich ist es ein vollständig beliebiges Datum. Ob nun der gigantische Gefängnisplanet „New Alcatraz“ in diesem Jahr eingeweiht wird (nämlich in dem Film „Alien Intruder“ von 1992), ob es das Jahr 2015 ist, in dem, jawohl, tadschikische Terroristen eine russisch-amerikanische Weltraummission kapern, wie in „Fallout“ (1998), um tödliche Satelliten auf die Erde stürzen zu lassen, oder ob es sogar schon 3026 ist, als eine Astronautin in „Apocalypse“ (1996) mit ihrem Bordcomputer Shakespeare-Rätsel lösen muss, um die Welt vor der Vernichtung zu retten – das Datum tut eigentlich nichts mehr zur Sache. Vor 1984 lag die Zukunft vor uns, nach 2001 liegt sie hinter uns. Sie hat sich in fieser Trivialität aufgelöst.

Wer fragt schon groß danach, in welchem Jahr „Star Trek“ oder eines seiner Spin-offs spielt, obwohl es die Fans natürlich genau wissen. Aber das ist ein technisches, kein magisches Wissen. Wenn sich da draußen im endlosen All Zeit für die Menschen wieder konsolidiert, dann tut sie es auf eine reichlich alltägliche, vor allem aber auf eine künstliche Art. Die Besatzung von „Raumschiff Enterprise“ weiß sehr genau, dass es sich bei der „Bord-Zeit“ nicht um eine Zeit handelt, die auch außerhalb ihres Schiffs von irgendeiner Bedeutung sein müsste. Manchmal scheint der Daten- und Namenfetischismus in unseren künstlichen Mythen wie ein fernes, parodistisches und paranoides Echo der Datenhuberei unseres vermeintlich wissenschaftlichen Bildungssystems. 333 – bei Issos Keilerei. In schöner Regelmäßigkeit gibt es Punkte auf der Zeitschiene, bei denen die Geschichte eine ihrer berüchtigten Wendungen vollführt haben soll. Manche dieser Daten bestehen die Tests der Diskurse, andere lösen sich bei genauerem Hinsehen auf. Die Zeit als Allgemeingut wenigstens in einer bestimmten Kultur wird schon fragwürdig, wenn wir sehen, dass sich nicht einmal die Christenheit auf ein Datum für ihr absolut weltenwenderisches Ereignis, auf Weihnachten, einigen kann.

Das Datum ist einerseits Symbol der Wende, Machtergreifung, Entscheidungsschlacht, Niederlage, Revolution. Die Geschichte bringt sich selbst auf den Punkt. Andrerseits ist es Symbol bestimmter Verhältnisse und Stimmungen. 1968 meint kein besonderes Ereignis und keinen Punkt, für viele hat 1968 erst ein paar Jahre später stattgefunden. Dann ist das Datum ein sich ausdehnender Raum für Zustände wie „Anfang“ oder „Ende“. 1984 etwa dauert tendenziell ewig; es ist das Datum eines fortdauernden Endes. „2001“ dagegen, das Jahr, in dem der Mensch nach seinem Aufbruch in den Weltraum an die Grenzen seines Verstandes geraten ist, wo er nach dem harten Kampf mit seiner eigenen Technologie sterben muss, um als unbegreifliches „Sternenkind“ wiedergeboren zu werden, saugt alle Zeit in ein schwarzes Loch. Von hier ab wird Geschichte, wenn überhaupt, wieder rückwärts erzählt.

Was war die Ernüchterung, als wir 1984 wirklich erlebten? Dass es gar nicht so schrecklich gekommen war, oder, umgekehrt, dass es genauso kam, wie es in der Pop-Variante einer Prophezeiung beschrieben worden war, es uns aber gar nicht so schrecklich vorkam? Eines ganz sicher hat sich gegenüber der Prophezeiung verschoben: „Big Brother“, das ist im Jahr 2001 nicht ein terroristisch-fiktives Subjekt, Big Brother, das sind, nach einem Druck auf die Fernbedienung, vor allem wir selbst.

Auch die Prophezeiung von „2001“ führte in einen Zustand der Ernüchterung. Nicht nur weil die saubere, weiße Raumschifffahrt in Wirklichkeit zu einer Anhäufung von orbitalem Schrott geführt hat, der uns wahrhaft nicht mehr weiterbringt, auf den ersten Blick ist auch jede Art von „Wiedergeburt“, wenigstens von Grenzerfahrung ausgeblieben. Die orbitale Wahrnehmung hat sich vor unseren Augen trivialisiert. Aber andrerseits ist es natürlich auch wie im Fall von „1984“: Die Prophezeiung hat sich erfüllt, nur schleichender und undramatischer, als wir es gern – oder doch nicht so gern – gehabt hätten. Computer sind nicht größenwahnsinnige Subjekte wie „H. A. L.“ geworden, aber unsere Abhängigkeit von ihnen ist in den tausend kleinen Maschinchen, ohne die nicht einmal dieser Text an einen Empfänger geraten würde, nur noch größer geworden. Auch die Auflösung des menschlichen Subjekts am Ende der Reise zu den Grenzen des Raums scheint mehr oder weniger beschlossene Sache – und wie wir in der „Matrix“ verschwinden, wer könnte da sagen, ob das gestern oder im Jahr 2045 stattfindet? Kurzum, die großen magischen Daten unserer Pop-Prophezeiungen zeichnen sich durch eine eigenwillige Eigenschaft aus: Das Vorhergesagte hat sich zugleich erfüllt und nicht erfüllt. Statt als Katastrophe ist es als Normalzustand eingetreten. Wir haben uns – gibt es etwas Schlimmeres? – daran gewöhnt.

Die Zukunft fand zwischen den Daten 1984 und 2001 statt. Hier ereigneten sich alle denkbaren Katastrophen: Weltkriege zwischen Menschen und Maschinen, Vernichtung großer Teile der Menschheit durch Viren, Invasionen unfriedlicher Aliens, Vernichtung der Ressourcen durch Klimaveränderungen und Weltvergiftung, Zerbrechen der menschlichen Gesellschaften durch die Entstehung neuer Rassen und Klassen in Form von geklonten, maschinellen oder virtuellen Menschen und so weiter. Jede dieser Katastrophen der gerade einmal 17 Jahre andauernden Zukunft katapultiert uns automatisch in einen Zustand vor- oder nachher. Sehr vorher, wenn wir gleich wieder in einer Art Steinzeit landen wie bei „Mad Max“, sehr nachher, wenn die reale Menschheit tatsächlich endlich den großen Abschied nimmt und von ihr nur ein mechanischer Pinocchio übrig bleibt, als Archiv und Erinnerung wie in Steven Spielbergs „A. I.“. An ein neues magisches Datum, den nächsten Punkt von Hoffnung oder Katastrophe, scheint unsere populäre Kultur jedenfalls nicht mehr denken zu können. Magische Zahlen tauchen seit geraumer Zeit nicht mehr auf. Ja vielleicht gibt es überhaupt nichts „Kommendes“ mehr, in jeder denkbaren Katastrophe stecken wir schon mittendrin. Im End- und Anfangsjahr 2001 begann die Zeit selbst zur Katastrophe zu werden.

Dann aber kam sehr, sehr wirklich der 11. September des Jahres 2001. Aus dem Schrecken der Sichtbarkeit war, wie Jean Baudrillard sagt, die Sichtbarkeit des Schreckens getreten. Nicht länger hatte sich eine Katastrophenfantasie ein magisches Datum gesucht, eine Katastrophe vielmehr hatte das ihre geschaffen, am Ende jenes Jahres, in dem in unserer populären Mythologie definitiv Schluss ist mit einer linearen Beschreibung von Zukunft. Sogleich wurde auch das als „Erfüllung“ jener Pop-Prophetien gedeutet, die wir uns im Kino und im Fernsehen in einer Art negativer Zeremonie unentwegt angedeihen lassen. Tatsächlich scheint ja diese Katastrophe nicht nur eine in der Zeit, sondern auch eine Katatsrophe der Zeit zu sein. Mit ihr bricht die Zukunft als Raum und Zeit noch einmal zusammen. Gleichgültig, was die Legenden, die Propaganda, die nachfolgenden Kriege und ihre Bilder daraus machen: Am Ende des Jahres 2001 ist die Prophezeiung von „2001“ auf eine schreckliche Weise Wirklichkeit geworden.

Es geht nicht mehr weiter, nur noch zurück. Geschichte, Geschichten und Biografien beginnen sich rückwärts zu erzählen. Wir sehen nicht die Computer, sondern die Menschen, die sie bedienen, verrückt werden. Viel schneller als sich „Mad Max“ das vorgestellt hat, ist man in zwei absurden Welten gleichzeitig: in der Steinzeit und im Cyberspace, an Orten, an denen die moderne Vorstellung von Zeit noch darauf wartet geboren zu werden und an anderen, an denen sie schon keine Gültigkeit mehr hat.

Noch genauer gesagt: Der 11. September war das Datum, in dem „1984“ und „2001“ gewissermaßen ineinander gestürzt sind. Auf eine „2001“-Erfahrung (genau dort ereignet sich die Katastrophe, wo das System sich perfekt wähnt) reagiert man mit „1984“-Mitteln: neue Überwachung, neues Misstrauen, neue Medien, neue Sprache. Wenn sich aber unsere Welt nach dem 11. September von 2001 zu 1984 zurückerzählt, so tut sie es auch umgekehrt: Nicht nur der Krieg virtualisiert sich, sondern auch jeder einzelne der überwachten Menschen, die glauben, einen „Preis der Freiheit“ zahlen zu müssen (nämlich die Freiheit selbst). So entsteht aus dem Überwachungstrauma der „1984“-Fantasie wiederum die tückische Subjekt-Fantasie des „2001“-Mythos. Statt also diesen kurzen Raum namens „Zukunft“ zu überschreiten, wer weiß wohin, sind wir nun zwischen 1984 und 2001 gefangen.

Die beiden Zeitkatastrophen spielen Pingpong mit uns. So nimmt es wohl nicht Wunder, dass der 11. September sogleich ein „überzeitliches Datum“ wird. Es ist ein Tag, der beinahe vergessen will, dass er in einem bestimmten Jahr liegt, ein Tag, dem wir sogleich zumindest als „Gedenken“ die ewige Wiederkehr auferlegt haben. Er hat das „historische Datum“ aus dem Stand zu einem metaphysischen Datum hin überschritten. Ab jetzt ist nichts mehr, wie es war. Aber wie war es denn, und was wäre dann, bitte schön: „anders“? Nein, in Wahrheit besteht die Katastrophe eben genau darin, dass alles beim Alten bleibt, in der Welt und in den Köpfen. Gerade deshalb heiligt sich das Datum schneller, als das Ereignis begriffen werden konnte. Es ist weder Teil der Vergangenheit noch Teil der Zukunft, es ist nicht einmal ein „Schnitt“ zwischen beidem, sondern vielmehr die Aufhebung beider Zeitvorstellungen und damit wohl in der Tat die Erfüllung der Prophetien von „1984“ und von „2001“.

Aber warum scheint uns in diese lange angekündigte doppelte Verzweiflung von Katastrophe und Stillstand nicht wenigstens eine Pop-Variante einer neuen Verheißung? Könnten wir uns nicht für 2006, 2020 oder 8999 etwas anderes vorstellen als die blödsinnige Akkumulation des Katastrophischen, wie wir sie aus dem Ritornell von „In the Year 2525“ von Zager und Evans ebenso kennen wie aus den Bilderschleifen des fantastischen Films? Warum kommt nicht ein Autor daher und legt sich fest: Ich gebe meiner Prophezeiung wieder ein Datum. 2099 bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als sich samt und sonders in Engel zu verwandeln (was im Übrigen natürlich hoffnungsfroher klingt, als es ist).

Nicht dass es keine magischen Daten mehr gäbe, sogar Computerspiele bekommen imaginäre Jahreszahlen zum Titel. Aber sie entwickeln keine Aura mehr. Denn die Grenze verläuft nicht mehr zwischen der Geschichte der Gegenwart und dem Zustand der Zukunft (oder umgekehrt) – nichts anderes beschreibt ein solches magisches Datum, sondern zwischen Traum und Wirklichkeit oder vielleicht noch genauer zwischen künstlichem und „natürlichem“ Traum (zwischen Träumen und Geträumtwerden). Die Frage ist nicht mehr: Wann wird es so kommen (als Katastrophe, Krise, Wiedergeburt, Erlösung)? Die Frage ist: Wie wirklich ist es?

Die Katastrophe des 11. September ereignete sich nicht auf einem Zeitstrahl, nicht als plot point der Geschichte, sondern in einem Bilderkosmos, als Parallelität zur längst produzierten Alptraumwelt. Natürlich „geschieht“ aufgrund dieses grausam inszenierten Stücks Realität ungeheuer viel, und das meiste ist nicht weniger furchtbar als das Attentat selbst. Aber niemand käme auf die Idee zu behaupten, hier würde nun wieder „Geschichte geschrieben“. Im Gegenteil: Das Schreiben selbst, die Geschichte als Text und der Text als Geschichte, wird von den Aktionen und Reaktionen attackiert, die es vor allem darauf abgesehen haben, nach Bedarf zum Bild zu werden oder aus dem Blickfeld zu verschwinden. So gibt es auch kein Datum, auf das man Geschichte wenigstens in fiktionaler, diskursiver Weise hin schreiben könnte.

Schreiben wir keine Geschichte, weil wir keine Zukunft haben (weil wir uns wie rasend zwischen 1984 und 2001 hin und her bewegen), oder haben wir keine Zukunft, weil wir keine Geschichte mehr schreiben? Jedenfalls kann wohl ein magisches Datum in unserer kollektiven Fantasie nicht mehr wirklich entstehen, weil auch das, worauf es sich beziehen müsste, nämlich das historische Datum, keinen verlässlichen Wert mehr darstellt. Ein Bild hat kein eindeutiges Datum (weswegen wir, um es festzulegen, das Datum einblenden oder signieren und weswegen man mit nicht oder falsch signierten Bildern und ihrer Montage ganz einfach alles Mögliche erzählen kann), aber nun generieren Daten auch keine eindeutigen Bilder mehr. 1984 ist zum Teil der Spaßkultur geworden, die kleinen Brüder (und „Schwestern“) von H. A. L. produzieren Alltagskatastrophen. Der 11. September 2001 hat kein Subjekt. Mit idiotischem Ingrimm sammelt der posthistorische Staat seine Daten. 2001 hat die Zeit damit begonnen, sich in verrückten Spiralen zu bewegen. Im Jahr darauf kann man sich nichts Psychotischeres vorstellen als einen Datensatz. Vielleicht kommt im Jahr 2047 jemand auf die Idee, die Krankheit der Zahl zu behandeln.