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Billige Schelte für die Eltern

Seit Pisa ist für Konservative alles klar: Die Familien sind schuld an der deutschen Bildungsmisere. Sie versagen bei der Erziehung. Doch so einfach ist es nicht

1,6 Millionen Minderjährige leben von der Sozialhilfe – Armuterhöht das Risiko, in der Schule zu versagen

Die Qualität elterlicher Erziehung wird endlich diskutiert. Aber nicht, weil die Frage nach notwendigen Erziehungskompetenzen in einer modernen und offenen Gesellschaft ins allgemeine Bewusstsein gerückt wäre. Anlass ist die Schulleistungsstudie Pisa, die gezeigt hat, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich schwach abschneiden und vor allem, dass sozioökonomische Benachteiligungen vom deutschen Bildungswesen nicht kompensiert werden.

Nun wird nach Schuldigen gesucht. Ist es das gegliederte Schulwesen? Die starre Didaktik? Die Schüler selbst und ihre fatale Neigung zum Nichtstun? Oder eben die Eltern, die sich nicht für die schulische Entwicklung ihrer Kinder interessieren? Die noch nicht mal nach der Note der letzten Mathearbeit fragen?

Auf die zeigen die konservativen Zeigefinger. Und wenn wir schon beim pädagogischen Aufräumen sind, da fordern wir auch gleich wieder Werte! Am besten zentral verordnet, gleichsam per Erlass. Und dazu braucht es elterliche Strenge. Da werden in vermeintlichen „Erziehungsratgebern“ über „Die Erziehungskatastrophe“ oder den „Erziehungsnotstand“ erschreckende Thesen verbreitet. Der Kern ist einfach: Schlechte Schulleistung liegt an schlechter Erziehung (so auch Harry Kunz in der taz vom 27. 12.).

Ein Blick auf eine Grundschulkarriere: Philip war schon im ersten Schuljahr sehr unruhig und hat sich für alles interessiert, was mit Schule nichts zu tun hat. Anfangs dachten Lehrer und Eltern noch: „Das gibt sich.“ Ab der zweiten Klasse sank ihre Hoffnung. Am Ende der Grundschulzeit wurde über eine Sonderschule nachgedacht. Philip zappelte rum, vergaß seine Hefte und war kaum mehr zu motivieren. Lag es an den Eltern? Keineswegs. Die bemühten sich, führten jeden Tag einen dreistündigen Hausaufgabenkrieg. Oder lag es doch an der Schule?

Abgesehen davon, dass der Verdacht bedrohlich nahe liegt, dass die schwedischen Schüler besser abschneiden, weil es dort in den ersten neun Schuljahren keine Leistungsdifferenzierungen und bis zur achten Klasse keine Noten gibt – abgesehen davon ist Bildung natürlich nicht nur Aufgabe der Schule.

Allerdings erlaubt Pisa keine einfache Antwort auf die Frage, wie groß der Anteil der Eltern an der Bildungsmisere ist. Dass aber gerade in Deutschland die familiären Faktoren relativ schwer wiegen, wissen wir bereits seit 1995, seit die Studie TIMSS Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften erhoben hat.

Trotzdem schneiden auch nach Pisa die deutschen Eltern gar nicht so schlecht ab. Hier wird mehr in die Daten hinein interpretiert, als diese hergeben. Nur wahrhaft Wagemutige vermögen aus Pisa herauszulesen, dass die Eltern versagen, die Familien gar zerbrechen.

Die Autoren von Pisa attestieren den Eltern keineswegs verantwortungsloses Fehlverhalten. Sondern sie betonen die politischen Implikationen: Die entscheidende Aussage von Pisa und die eigentliche Herausforderung ist, dass die häusliche Förderung gerade dort lückenhaft ist, wo sie am nötigsten wäre. Und wo sie zugleich am schwersten leistbar ist. Da, wo die sozioökonomischen Bedingungen am schlechtesten sind.

Wo trotz trickreicher Werbung der Internetzugang fehlt, weil man sich den Computer nicht leisten kann, wird das Interesse an der Technik neuer Medien nicht gefördert. Wo Eltern eigene Schulbildung fehlt, verliert sich das Interesse an der schulischen Entwicklung der Kleinen. Und wo Schulen schon auf Grund zu großer Klassen mit den Schwierigen überfordert sind und Druck auf Eltern ausüben, da kann die so notwendige Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern nicht stattfinden.

Das merkten auch Philips Eltern. Der Junge verweigerte schließlich völlig die Mitarbeit, störte den Unterricht. Seine Eltern wandten sich an die Schulberatung, dann an die Erziehungsberatung. Wartezeiten von über einem halben Jahr! Sie gingen zum Jugendamt. Und wurden mit allgemeinen Erziehungsratschlägen und dem Hinweis auf fehlende Unterstützungsangebote nach Hause geschickt.

Sie landeten in dem typischen pädagogischen Bermudadreieck aus Bildung, Erziehung und psychosozialer Versorgung. Im Niemandsland zwischen den Zuständigkeiten von Schule und Schulgesetzen, Elternhaus und Jugendhilfegesetz, Beratung und Therapie. Verantwortung und Kosten werden verschoben. In dieser Situation sind Eltern nicht zu verurteilen. Sie versagen nicht, sind aber bisweilen überfordert. Da hilft auch kein Griff in die Mottenkiste einer Werte-und-Tugend-Erziehung.

1,6 Millionen Minderjährige leben in Deutschland von Sozialhilfe. Ihr Anteil an Sozialhilfeempfängern ist annähernd doppelt so hoch wie an der Gesamtbevölkerung. Wer Risikofaktoren für Schulversagen ausmachen will, der entdeckt finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse und fehlende soziale Unterstützung. Und wohl auch Probleme der Eltern und geringe erzieherische Fertigkeiten.

Wie wäre es daher mit einem Ausbau sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Hilfen, mit einer besseren Ausstattung etwa der freien Jugendhilfe? Und wie wäre es mit Kursen für Eltern zur Förderung der Erziehungskompetenz? Oder mit Angeboten, um Bildungslücken im Elternhaus zu schließen? Aber nicht nach dem Motto: „Fehlt Evas Mutter beim Deutschkurs, kürzen wir ihr das Kindergeld.“

Die betroffenen Familien benötigen zudem den konsequenten Ausbau von Ganztagseinrichtungen, von vorschulischer Bildung mit eigenem pädagogischen Konzept und umfassender Schulsozialarbeit. Es mangelt weder an Ideen noch an engagierten Fachkräften. Wohl aber an der Umsetzung, die eben nicht kostenneutral zu haben ist.

Es gibt ein Niemandsland zwischen Schule und Schulgesetzen,Elternhaus, Beratung und Therapie

Philips Schulleistungen sind schlecht. Zugleich leidet er, wie viele SchülerInnen, unter der Schule. Den Eltern wurde zuletzt empfohlen, psychotherapeutische Hilfe für ihren Sohn in Anspruch zu nehmen. Nun suchen sie seit einem Jahr erfolglos einen Therapieplatz.

Spätestens hier stellt sich die Frage, wie Pisa beantworten kann, ob die SchülerInnen „gut vorbereitet (sind) für die Herausforderungen der Zukunft“? Pisa ergründet einen Ausschnitt aus der Bildungswirklichkeit. Es kann in einer Bildungsstudie nicht um psychische und soziale Kompetenzen gehen. Mithin bleiben aber wichtige Zukunftsfähigkeiten unberücksichtigt. Ein großer Teil der Schüler leidet unter psychischen Belastungen. Unter solchen, die das Lernen erschweren, und solchen, die Lernen und Schule verursacht haben. Es wäre fatal, würden nach Pisa Schule und Bildung nur noch unter dem Aspekt der Lernergebnisse diskutiert. Es geht nicht allein um Bildungspolitik, es geht zugleich um aktive Familien- und Jugendhilfepolitik.

Billiger ist es allemal, von den Eltern per Dekret bessere schulische Leistungen ihrer Kinder zu fordern. Philips Eltern werden sich bedanken.

KLAUS SCHMIDT-BUCHER

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