Unschuldig, Euer Ohren!

DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH

Löst man die Globalisierungsprobleme – Hut ab! Löst man sie nicht, gibt’s anderswo Bürgerkrieg

Wenn die Grünen eine pazifistische Partei wären, wäre Gerhard Schröder schon Bundeskanzler. Weil sie es nicht sind, ist er es noch. Womit bewiesen wäre, dass der Pazifismus der Macht genau so egal ist wie den Grünen.

Das weist in die Vergangenheit: Wenn die Grünen Schröder das Vertrauen entzogen hätten, hätte er seine frühe Neuwahl bekommen und offensichtlich bereits gewonnen – mangels ausreichend vorbereiteter K-Antwort der Union. Die Idee stammt vom Kanzler selbst: Dass im Frühjahr leichter zu gewinnen gewesen wäre, was im September ein harter Wahlkampf werden dürfte. Hohe Arbeitslosenzahlen, miese Konjunkturaussichten, schillernde Debatten um Zuwanderung und innere Sicherheit. Bis zu des Kanzlers Vertrauensfrage schien ein Arschkartenspiel, was seither zur massiven Rangelei um die Kanzlerkandidatur der Union sich auswuchs. Erst Schröders Risikobereitschaft, im Frühjahr zu gewinnen – brachte die Union auf die Idee, dass er im Herbst vielleicht doch verlieren könnte. Und an welchen Punkten er angreifbar sei. Klappt also noch, dass der Kanzler der Union die Richtung vorgibt.

Aber wenn das hier noch jemand weiter lesen soll, muss der Text in die Zukunft weisen. Nicht jene, in der „den Medien“ routiniert die „Personalisierung“ und „Entinhaltlichung der Politik“ vorgeworfen werden wird – die kommt sowieso. Sobald die aktuelle K-Sau abschließend durchs Wildbad gejagt ist, wird man uns den Niedergang der politischen Kultur dank Talkshow wieder um die Ohren hauen. Deshalb hier nur melancholisch zu Protokoll: Stoibermerkel und dass Merz stoibert um nicht gemerkelt zu werden, und was plappert der Müller am rauschenden Ach – das waren wir nicht! Unschuldig, Euer Ohren! Wir hätten auch gern was über Stammzellen oder Krankenversicherung gemacht. Wenn es denn über den eher so nebenher stattfindenden Krieg aus Sicht der Politik wirklich nichts Dringliches zu sagen gibt.

Welche Zukunft dann? Eine inhaltliche Alternative scheint sich mit der überkochenden Personaldebatte nicht zu verbinden; uns wird wenig vorgeschlagen, was Ähnlichkeit mit Programm oder Politik hätte. Ersatzhalber ist Stoiber der Favorit von Schill und Merkel eine Frau. Schröder die Durchsetzungsfähigkeit schlechthin und Fischer ein tolles Drehbuch, vom Tellerwerfer zum Millionär.

Die eine Hälfte des Wahlvolks wird also irgendwen ankreuzen, die andere wird’s im festen Glauben an die zuverlässige Funktion unserer Bequemokratie auch ohne Wahlteilnahme wohl gerichtet wähnen, und fertig.

Zur Bildungsstudie, dem schiefen Vergleich von Pisa, fällt der Bildungspartei FDP ein, dass man so doof auch mit einem Schuljahr weniger werden könnte. Dieses Jahr kommt die Pisa-Länderwertung hinterher, dann wird Berlin seine sechs Grundschuljahre loben, Nordrhein-Westfalen seine selbständigeren Schulen und Bayern seinen strengen Lehrplan. Und alle ganz schön recht haben: 1, setzen. Zur kollabierenden Sozialversicherung schafft die SPD jene Parität ab, an der die CDU bis zuletzt unter Krämpfen festzuhalten suchte. „Rente reicht nicht? Dann kauft euch doch ’ne Lebensversicherung!“ ist eine genuine FDP-Antwort der SPD, die die CDU ihrem Biedenkopf nicht abgekauft hat. In drolliger Analogie importieren wir Stammzellen mit und ohne Menschen drumherum; mal als rarer Forschungsrohstoff, mal als rare Forscher – immer, weil’s der Wirtschaft dient und „damit uns allen“.

Ambivalenz, Gleichwertigkeit, Unterschiedslosigkeit – scheint Politiker und Parteien, Personen und Programm zu verbinden. Und die Gegenwart mit der Zukunft. Ist wurscht, bleibt wurscht. Zwei Möglichkeiten, dies zu erklären: Unter dem Firnis guten Staatsbürgertums lebt politischer Fatalismus fort. Die da oben, alles Schicksal, uns fragt ja keiner, entscheiden eh die Bosse. Und am aktuellen Beispiel: Wenn sie was verändern wollen, kommen sie nicht dran; kommen sie dran, verändern sie nichts mehr – siehe Grüne. Möglichkeit zwei: Es scheint egal, denn es ist egal. Gemessen an der Kernaufgabe, der Seinsgrundlage von Politik – gewaltfreier Ersatz für Krieg zu sein, nämlich – sind das alles Geringfügigkeiten. Löst man das Krankenversicherungsproblem – na schön; löst man’s nicht – stirbt keiner dran, der sich vorher noch groß wehren würde. Löst man Globalisierungsprobleme – Hut ab! Löst man sie nicht, gibt’s anderswo Bürgerkrieg. Mal verbrämt sich dieser Gedanke hinter dem Raunen von Kohl als letztem Politiker aus der Noch-Kriegsgeneration; mal gewandet es sich positiv im Mantra von der „Normalisierung Deutschlands“ – beides umschreibt den Abschied von der Theorie und dem Lebensgefühl, in der Politik würden wichtige, lebenswichtige Fragen entschieden.

Na und? Der große Sozialdemokrat Kurt Schumacher, an Arm und Bein amputiert weil „kriegsversehrt“, der von Nazis drangsalierte und den Besatzern unbequeme Adenauer – na prima. Da brauchen wir ja nur einen neuen Faschismus samt Weltkrieg, um wieder früher-war-alles-besser-tolle Politikertypen zu bekommen.

Wenn sie etwas verändern wollen, kommen sie nicht dran; kommen sie dran, ändern sie nichts: siehe Grüne

Geht man mal spaßeshalber davon aus, dass viele auch Letzteres nicht als wirklich großen Zukunftsentwurf teilen würden – die Deutschen lernen womöglich dazu –, dann bleibt uns Kleinvieh. Ein zum Abschied durchaus liebevoll-melancholisches Häkchen unter die Grünen: doll gemacht, viel bewegt, Mitregieren hätte nicht mehr sein müssen, aber das wäre menschlich vielen Grünen gegenüber eben sehr hart gewesen, auf dies Happy End zu verzichten.

Vielleicht reicht’s nach der Abwahl noch zu etwas; die Niederländer kommen seit Jahrzehnten glänzend mit zwei konkurrierenden liberalen Parteien aus. Die SPD bei der langfristigen Aufgabe, die PDS endgültig zu verbayern und einzugemeinden; das wird schon jetzt als europäische Folklore nach italienischem, französischen Muster apostrophiert. Die Union weiter auf der Suche nach einer dominanten Überfigur, unter der sich’s traditionskonform leiden lässt – das sind Entwicklungen, die nicht so ganz unwahrscheinlich und nicht so ganz unspannend sind. Not, die erfinderisch macht – also nicht: erfundene Not – äußert sich auf der klassischen, nationalen Ebene von Politik zur Zeit nicht deutlich. Mag da sein, sagt aber nix.

Ebenfalls in Frankreich und Italien sind die „Globalisierungsgegner“ – die tatsächlich viel eher „Befürworter der Globalisierung der Demokratie“ sind – viel stärker und zahlreicher. Manche sagen: Ihr genuiner Kanal in Deutschland wären die Grünen, und die sind halt zu sehr mit mitmachen beschäftigt. Die doktern mit Militäreinsatz und Afghanistankrieg an den Symptomen herum, deren gruseligstes der 11. 9. war. Das muss ja auch nicht gleich morgen klappen, dass daraus eine endlich wieder vorwärts treibende Kraft auch in Deutschland wird. Mit Willi Hoss bekennt sich einer zu „attac“, der von Parteien erst mal die Nase voll hat; mit Lafontaine ein anderer, von dem die Parteien die Nase voll haben – so hat das mit den Grünen ja auch mal angefangen. Hoffentlich ist das kein schlechtes Zeichen.