: Doppelt so viel Zeit für halb so viel Unterrichtsstoff
Bildungsexperten der Heinrich-Böll-Stiftung fordern radikale Schulreformen, neue Lehrpläne und echte Ganztagsschulen. Harte Kritik am Kanzler
BERLIN taz ■ Kaum äußert sich Gerhard Schröder mal zur Schule, ist es auch schon wieder falsch. „Der Kanzler zieht genau die falsche Schlussfolgerung, wenn er ganztägige Betreuung an Schulen fordert“, sagte der ehemalige Chef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Dieter Wunder, gestern bei einem Bildungskongress der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Wunder stört vor allem das Wort „betreuen“. Er kritisierte: „Betreuung ist genau das Gegenteil von Fördern und Lernen.“ Es sei wichtig, ganztätige Angebote als Bildung zu begreifen.
Auch die Bildungsgutachter der Stiftung gehen weiter als der Bundeskanzler, der Mitte der Woche für die Ganztagsschule plädiert hatte. Sie forderten gestern, als eine Konsequenz aus dem schlechten Abschneiden der deutschen Teenager bei der Schülervergleichsstudie Pisa das Curriculum und die Unterichtszeit radikal zu verändern: Die Stoffmengen in den Lehrplänen sollten reduziert werden – und zwar auf die Hälfte. Gleichzeitig solle die Schulzeit gestreckt werden – auf das Doppelte, nämlich den ganzen Tag. Dabei müsse, so schreiben zehn renommierte Bildungsforscher in ihren Gutachten zur „Chancengleichheit“, das Lernen für andere Wege geöffnet werden. Auf Deutsch: Eine Ganztagsschule dürfe keinesfalls den alten Unterricht nur in den Nachmittag hinein verlängern. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist in Deutschland die Halbtagsschule der Normalfall. Der Berliner Schulsenator Klaus Böger (SPD) verteidigte den Kanzler mit einer ironischen Wendung. „Ich bin ja schon froh, wenn der Bundeskanzler was zur Bildung sagt, das sich nicht auf Säcke reimt“, spielte Böger auf die legendäre Äußerung Schröders gegenüber einer Schülerzeitung an, Lehrer seien faule Säcke.
Böger nahm die Forderung der Böll-Gutachter auf. Berlin und Brandenburg seien dabei, ein gemeinsames Kerncurriculum für ihre Schulen zu formulieren. Böger sagte, die Länder reagierten damit auf einen verbreiteten Missstand in Deutschland. „Wir gängeln die Schulen mit tausend Detailvorschriften“, sagte er, „aber wir lassen ihnen zu viel Spielraum darin, festzulegen, welche Standards Schüler erreichen sollen.“ Die Lösung aus dieser Beliebigkeit soll die verbindliche Festlegung weniger Kernfächer sein – etwa Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache. CHRISTIAN FÜLLER
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