piwik no script img

Wenn Gewalt Identität stiftet

Amokläufer werden allzu schnell gesellschaftlichen Randgruppen zugeordnet, die neue Mordlust wird individualisiert. Die gesellschaftlichen Ursachen blendet man aus

Ursächlich sind die modernen Imperative von Mobilität, Flexibilität und allseitigerVerfügbarkeit

Noch 1999 schienen die Bilder vom Massaker in einer Schule im amerikanischen Littleton weit entfernt. Nach den Amoktaten in Reichenhall, Meißen und jetzt Freising ist das blinde Morden von Jugendlichen und Jungerwachsenen nun auch in Deutschland Realität. Schüler planen die „Hinrichtung“ ihres Lehrers oder werfen zum Spaß fußballgroße Steine von Autobahnbrücken.

Zurück bleibt die Frage nach dem Warum. Insbesondere Boulevardmedien sind schnell mit Gründen bei der Hand: Für die jetzige Tat in Bayern müssen Arbeitsplatzverlust und Schulversagen herhalten. In anderen Fällen sind es die Alkoholprobleme des Vaters oder eine neonazistische Gesinnung. All dies erklärt jedoch nichts.

Weder Probleme in Schule und Beruf noch familiärer Stress begründen für sich einen unwiderstehlichen Wunsch, zu töten. Indem Amoktaten Randgruppen zugeordnet werden, bleibt aber der Blick auf die allgemeine Lebenssituation von Jugendlichen ausgespart. Auch Psychologen reduzieren die neue Mordlust meist auf individuelle Persönlichkeitsprobleme: Amoktäter seien durch eine extreme Frustrationsintoleranz gekennzeichnet. Ihr Ich sei unfähig, auf das übliche Maß an Aggressionen, Angst und Unbehagen angemessen zu reagieren. Sicher sind Handlungsmotive in der Persönlichkeit der Täter zu suchen. Doch darf dies gesellschaftliche Ursachen nicht ausblenden: Warum treten solche psychischen Wunden heute gehäuft auf? Weshalb entladen sie sich in einer solch extremen Form?

Eine ähnliche Ratlosigkeit besteht gegenüber der Gewalt an Schulen. Zwar wird diese in ihrem quantitativen Ausmaß häufig überzeichnet. Und auch in früheren Zeiten ging die Identitätssuche Heranwachsender mit Normverletzungen und Probehandlungen einher. Selbst die verbreiteten Jackendiebstähle und Schulhoferpressungen sind leicht zu verstehen: Randständige Kinder rebellieren (mit untauglichen Mitteln) gegen ihre ökonomische Benachteiligung. Erklärungsbedürftig ist hingegen das Ausmaß an Brutalität: Immer öfter wird aus nichtigem Anlass zugeschlagen – weil „es anturnt“ oder jemand „blöd geglotzt hat“. Selbst wenn der Unterlegene wehrlos am Boden liegt, wird kräftig nachgetreten. Unrechtsbewusstsein, Schuldgefühle und Empathie mit den Opfern sucht man oft vergebens.

Über die Ursachen solch zielloser Gewalt besteht in der Fachwelt weitgehend Einigkeit. Es sind die modernen Imperative von Mobilität, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und allseitiger Verfügbarkeit, die bei jener Minderheit junger Menschen eine heillose Verwirrung stiften, die nie ein Grundvertrauen in das entwickeln konnten, was sie selbst sind und was ihre Identität ausmacht. Wer weder im familiären Nahbereich noch durch andere gesellschaftliche Instanzen ein sicheres Wissen über sich erwerben konnte, dem fehlt eine Leitorientierung im Umgang mit den widersprüchlichen Anforderungen der modernen Welt. Jede Frustration bewirkt dann eine überbordende Kränkung. Im Innern sind diese Jugendlichen leer, kalt und von Selbstzweifeln zerfressen, auch wenn sie passable Schulnoten erreichen und sich vordergründig anpassen. Ideologieversatzstücke oder die Bindung an Cliquen werden begierig als Ersatzidentitäten aufgesogen. Den eigentlichen Ausweg aber bildet die Gewalt, die kein Mittel, sondern Selbstzweck ist: Ich misshandle, ich schlage, also bin ich (jemand). Gewaltexzesse sind eine Weise, sich der eigenen, schwachen Identität zu versichern.

Auf diese neue Funktion der Gewalt als „Identitätsversicherung“ verweisen auch die Tat- und Täterprofile jugendlicher Amokläufer. Einerseits eine oftmals minutiöse Tatvorbereitung und die Auswahl von Anschlagszielen von subjektiv hoher symbolischer Bedeutung. Auf der anderen Seite eine nur dem eigenen Machtrausch dienende Gewalt – mit willkürlichen Opfern und ohne konkreten Anlass. Die Täter stammen überwiegend aus „gebrochenen“ Mittelschichtfamilien, elterliche Arbeitslosigkeit oder Alkoholprobleme haben die heile Bürgerwelt zerstört. Verletzlich, kränkbar und impulsiv, sind Kinder aus solchen Familien bei Altersgenossen eher unbeliebt. Auffallend sind ihre Identitätsunsicherheit und das Fasziniertsein von Gewalt, die sich etwa in Waffenfanatismus artikuliert.

Sicherlich gibt es keine Patentrezepte gegen diese neue Gewalt. Zumal der allseits geforderte flexible Mensch einen unauflöslichen Widerspruch in sich birgt. Wir benötigen eine stabile persönliche Identität, um im Wirrwarr gesellschaftlicher Verhaltensangebote und Zwänge einen eigenen Weg gehen und unabänderliche Frustrationen aushalten zu können. Aber Charakter, persönliche Bindungen und eine eigene Meinung stehen bisweilen den Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft nach Anpassungsbereitschaft und Flexibilität auch entgegen.

Doch selbst eine flexibilisierte Gesellschaft muss für Heranwachsende Rückzugsräume bereithalten, wo sie in Familien und Betreuungseinrichtungen voraussetzungslose Anerkennung erfahren können und ihre Suche nach Identität gefördert wird.

Die Häufung von Amoktaten in Schulen und der dortige allgemeine Gewaltpegel legen freilich den Schluss nahe, dass Schulen heute kein derartiger Ort der Heimat sind. Sondern dass sich dort Desintegrationserscheinungen, Kränkungen, Erniedrigungen und körperliche Verletzungen konzentrieren. Darauf reagieren noch immer viele Schulen allein mit dem Verriegeln der Eingangstüren. Die Gewalt sei allein in der Familie und in wachsenden sozialen Ungleichheiten begründet, wird behauptet. Doch Untersuchungen belegen, dass Gewalt an Schulen in dem Maße auch dort verursacht wird, wie die Maxime der Institution in der Auslese besteht. Zwar hat das Thema Gewalt als pädagogisches Modethema längst dem Umweltschutz den Rang abgelaufen. Doch meist bleibt dies auf Projektwochen beschränkt, die den Schulalltag kaum verändern. Was nützt beispielsweise eine Aktion „Schule ohne Rassismus“, wenn weiterhin Schüler ohne jede Konsequenz als „Kanaken“ tituliert werden?

Gewaltexzesse sind eine Weise, sich der eigenen, schwachen Identitätzu versichern

Statt in der Förderung von sozialem Zusammenhalt und Zivilität ein zentrales Bildungsziel zu sehen, fördert die heutige Schulorganisation durch die scharfe Konkurrenz zwischen den Schülern ein Klima, wo nach Umfragen ein Drittel aller Schüler Feindschaftsbeziehungen in der Klasse wahrnimmt. Lehrer sehen vielfach weg, wenn Schüler schikaniert oder in eine Außenseiterposition gedrängt werden. Andere freuen sich insgeheim, wenn unbeliebte Schüler den Unterricht regelmäßig schwänzen. Dabei haben gerade diese Schüler häufig massive Probleme mit ihren Mitschülern.

Stärker als hierzulande wird in Skandinavien die Schule als ein Ort sozialen Lernens begriffen. Ihr Ziel umreißt der norwegische Psychologe Dan Olweus: „Kein Schüler dürfte Angst haben, aus Furcht vor Drangsal und Erniedrigung in die Schule zu gehen.“ Welche deutsche Schule wird diesem Anspruch gerecht?

HARRY KUNZ

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen