: Im politischen Jenseits
Die Diskussion um die Zuwanderung zeigt: Die Politiker führen lieber Luftschlachten über Begriffe wie „Mitte“ und „Werte“, als sich um Probleme und Lösungen zu kümmern
Alle reden von der „Mitte“ und von den „Werten“. Dagegen ist eigentlich wenig zu sagen. Mit politischen Extremen haben Land und Leute nicht eben gute Erfahrungen gemacht, und das Nachdenken über Werte könnte ein kleines Gegengewicht bringen zu den organisierten Interessen und den Kalkülen der Macht, die sonst gleichsam naturwüchsig wuchern. Woher kommt aber das Missvergnügen, das sich über diese Debatte legt?
Mitte und Werte haben eines gemeinsam: Man kann so schön darüber reden, ohne irgendwelche Folgen benennen oder gar fürchten zu müssen. Die Debatte scheint irgendwo im politischen Jenseits angesiedelt. Mitte und Werte statt Probleme und Lösungen. Wie ein Luftkissen gleitet sie schwerelos über die reale Welt hinweg. Offensichtlich besteht die politische Kunst darin, die Diskurswelt von der politischen Welt so zu trennen, dass keiner auf die Idee kommt, das eine mit dem anderen zu verbinden.
Niemand soll merken, wenn Mitte und Werte durch die eigene Politik dementiert werden. Man kann die Raffinesse dieser Inszenierung durchaus goutieren. Konservative der alten Schule wie Franz Josef Strauß gingen da einfacher, elementarer, aber auch ehrlicher zu Werke: Man müsse die Werte und Prinzipien so hoch hängen, meinten sie, dass man mühelos darunter durchgehen könne – ohne sich allzu sehr zu verbiegen.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. In der Familienpolitik sind Mitte, Werte und Wandel eine neue Verbindung eingegangen. Die Union hat mühsam gelernt, dass es nicht reicht, die Familienwerte zu beschwören. SPD und Grüne haben erkannt, dass Familien- und Kinderwünsche mehr sind als eine konservative Illusion. Die Union hat ihren Frieden gemacht mit den neuen Realitäten, auch wenn viele insgeheim eher einen Verlust beklagen: den Niedergang der bürgerlichen Familie. Die Koalitionsparteien haben deshalb gute Chancen, auf eine glaubwürdige Weise Entfaltungs- und Familienwünsche miteinander und mit der Idee der Gleichheit der Geschlechter zu verbinden.
Weithin unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit haben sich Bündnis 90/Die Grünen darangemacht, eine Familienpolitik der Mitte zu artikulieren. Sie wissen, dass Geld nicht alles ist, dass es auf eine entsprechende soziale Infrastruktur ankommt und dass die stets knappen Mittel dorthin transferiert werden sollten, wo sie den Familien am meisten helfen und tatsächlich einen Unterschied machen: einmal bei der Bekämpfung von Armut und zum andern bei der Familiengründung.
Ausgerechnet die Grünen, die die meisten Schwierigkeiten haben, sich zur Mitte zu bekennen, dürften dieser Mitte hier näher kommen als andere. Alles in allem zeichnet sich in der Familienpolitik ein historischer Kompromiss ab. Die Werte sind in der Mitte angekommen, weil die Akteure die veränderte Wirklichkeit anerkannt haben – und die Notwendigkeit, diese wiederum so zu verändern, dass mehr Menschen bessere Chancen haben, ihre Werte zu leben.
Ebendies steht bei der Zuwanderung noch aus. Es gab Kommissionen, eine der Regierung und zwei der CDU. Die Vorsitzende der CDU konnte verkünden, dass ihre Partei als erste überhaupt ein schlüssiges Gesamtkonzept zu diesem Thema vorgelegt habe. Dann gab es in der CDU noch eine von Christoph Böhr geleitete „Wertekommission“, in deren Bericht unter anderem von einem Nachzugsalter von 18 Jahren die Rede war. Und sie bewegt sich doch, mochte man meinen – und hoffen, dass auch hier ein historischer Kompromiss greifbar nahe ist.
Die Hoffnung hat fürs Erste getrogen. Dass die Union nicht jede Forderung aus dem Müller- oder Böhr-Papier übernommen hat, ist nicht der Rede wert. Bedeutsam ist ein anderer Sachverhalt. Mag die Union auch noch so detailliert zu begründen versuchen, warum sie dem Entwurf der Regierung auf gar keinen Fall zustimmen konnte, in die Mitte der Gesellschaft hinein sendet sie eine ganz andere hintergründige Botschaft: Wenn es uns nützlich erscheint, reden wir über Werte und bilden Kommissionen. Wenn Wahlkampf ist, werden wir diese nicht einmal mehr ignorieren.
Andere Parteien machen es nicht anders. So dementieren sie sich selbst und ihren Anspruch, und sie tun es gründlicher, als es der politische Gegner je könnte. Die Erosion der Werte kommt aus einer politischen Mitte, die ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird. So kommt es zu einer schleichenden Veränderung des politischen Klimas und zu einer Entpolitisierung der organisierten Mitte.
So richtig es ist, dass der Kanzler jetzt endlich den Sack zubindet, so irritierend ist eine Rhetorik auch aus seiner Partei, die nicht mehr weit weg ist von der Suggestion, die Ausländer seien schuld an „unserer“ Arbeitslosigkeit. Deutschland und Deutsche zuerst, das hat man bisher so ähnlich nur in anderen Zungen und Sprachen und von anderen Parteien gehört. Zur Mitte haben sie allesamt nicht gehört, nicht in Österreich, nicht in Frankreich, nicht in Italien.
Während sich so das Klima ändert, läuft die politische Mitte langsam leer, was Ideen und politischen Willen betrifft. Für eine Regierung wird es immer schwerer, sich zu bewegen und Reformen anzupacken; sie muss ja Rücksichten nehmen, will ja Wahlen gewinnen. Wenn sie sich dann doch einmal bewegt, trifft sie auf eine Opposition, die es offensichtlich als ihre wichtigste Aufgabe betrachtet, auf alles zu schießen, was sich bewegt; sie muss ja Rücksichten nehmen, will ja Wahlen gewinnen.
Das war so vor vier Jahren, und das ist auch heute so. Die Rollen sind vertauscht, das Drehbuch ist geblieben. Man braucht keine tief schürfenden Analysen, um vorherzusagen, dass bei dem ohnehin komplizierten politischen System mit seinem Föderalismus, Verhältniswahlrecht und Korporatismus solche Blockaden auf Dauer zum langsamen Niedergang des Landes führen. Man braucht auch keine Umfragen, um zu wissen, dass solch hochgerüstete Rollenspiele vielleicht die Akteure befriedigen, die gesellschaftliche Mitte aber nur mäßig begeistern. Die Union und ihr Kanzlerkandidat haben die Chance verpasst, aus diesem Teufelskreis auszubrechen und so ihre neu gewonnene Stärke durch eine innere Souveränität zu beglaubigen.
Durch Blockaden und Konfrontationen, hinter denen keine guten Gründe mehr zu erkennen sind, werden Mitte und Werte zerrieben, nicht gewonnen. Da helfen auch luftige Debatten nicht weiter. Der Kurs entscheidet sich hart am Wind, bei den Schlüsselthemen von Gegenwart und Zukunft. Die Probe aufs Exempel, wie es mit Mitte und Werten weitergeht, ist bei der Familie geglückt, bei der Zuwanderung noch offen. Für den Arbeitsmarkt kommt endlich, der Bundesanstalt und ihren Statistiken sei Dank, die fällige Debatte in Gang, für die Bildungspolitik hat sie noch kaum begonnen.
Der Arbeitsmarkt muss geöffnet werden für die bisher Ausgeschlossen. Entbürokratisierung, Deregulierung und Wachstum allein werden dieses Ziel nicht erreichen. Ein sozial verträglicher Niedriglohnsektor und eine stärkere Kommunalisierung der Beschäftigungspolitik müssen hinzukommen. Der Schlüssel zu einer Politik, die die Chancen für alle verbessert, liegt in einer Reform des Bildungswesens. Warum nicht die Hauptschule zu einer leistungsfähigen Integrationsschule für Minderheiten ausbauen? Warum nicht langfristig die Organisation der (Fach-) Hochschulen so ändern, dass niemand wegen seiner Herkunft ausgeschlossen wird und jeder, der das wirklich will, eine zweite Chance bekommt, auch als Erwachsener neue Kompetenzen zu erwerben?
Die Organisation von Arbeitsmarkt und Bildungswesen wirkt sich heute so aus, dass beide zu einem Produzenten von Ungleichheit werden: zwischen jenen, die drinnen sind, und jenen, die draußen sind; zwischen denen, die durch staatliche Leistungen später einmal private Bildungsgewinne akkumulieren können, und jenen, die auch als Folge staatlichen Versagens die Hauptschule ohne Abschluss verlassen und ohne Perspektive ins Leben gehen.
Die Deutschen unter sich, allesamt intergriert über die bürgerliche Familie und über Vollbeschäftigung, in jungen Jahren mit Bildungsproviant fürs ganze Leben versorgt: Bilder wie diese haben einmal Mitte und Werte der Gesellschaft repräsentiert. Das ist lange her, und es wird nie wieder so sein. Mitte, Werte und Realitäten müssen in eine neue Balance gebracht werden. Hier helfen Debatten und ein gewisser Mut zu Reformen – nicht Luftschlachten über Mitte und Werte. WARNFRIED DETTLING
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