: „Ins dunkle Nichts“
Interview MICHAEL STRECK
taz: Herr Professor Herold, wieviele Zivilisten sind bisher in Afghanistan ums Leben gekommen?
Marc Herold: Bis Ende Februar komme ich auf eine Zahl von 4.050 Menschen, die durch Bombenexplosionen und Raketen am Boden starben.
Also mehr, als am 11. September in New York und Washington ums Leben kamen?
Sicher, auch wenn ich diesen Vergleich nicht mag.
Sie haben bereits im Dezember eine Studie mit Zahlen veröffentlicht. Doch die US-Medien haben dieses Thema weitgehend ignoriert.
Der Krieg begann als technologisches und mediales Spektakel, in dem unsere Militärtechnik gefeiert wurde. Wir sahen Berichte von Kampfbombern, die nachts von Flugzeugträgern ins dunkle Nichts starteten. Das Nichts hieß Afghanistan, und was dort wirklich passierte, blieb buchstäblich im Dunkeln. Selbst auf den ersten Pressekonferenzen des Pentagons wurde nur über die Zahl der eingesetzten Raketen, die Waffentypen und einzelne Ziele berichtet. Ich habe versucht, über die ausländische Presse Informationen zu bekommen. Diese berichtete viel detaillierter von der Situation vor Ort. Ich habe eigentlich nichts weiter getan, als vorhandene Berichte über die Zahl der zivilen Opfer zu sammeln, Daten nachzuprüfen und die Zahlen zu addieren.
Wie zuverlässig sind die Daten, die Sie benutzt haben?
Ich habe keine Veranlassung, den Wahrheitsgehalt meiner Quellen anzuzweifeln und den Reportern zu misstrauen. Zu Beginn habe ich vor allem australische, französische und britische Berichte benutzt. Einige Informationen kamen von der afghanischen Nachrichtenagentur AIP, einer unabhängigen Agentur, die in Peschawar und Islamabad ihren Sitz hat. Dennoch gibt es mit Sicherheit Fehler. In dieser chaotischen Region kann es kaum anders sein. Ohnehin ist es sehr schwierig, zivile Opfer eines Luftkrieges zu erfassen. Was die grobe Schätzung anbetrifft, liegt die Spannbreite auf jeden Fall zwischen 3.000 und 5.000.
Sind die von Ihnen aufgelisteten zivilen Opfer nur durch Raketenangriffe oder auch durch militärische Aktionen am Boden gestorben?
Bei meiner Recherche handelt es sich ausschließlich um Opfer, die durch Bomben und Raketen amerikanischer Luftangriffe ums Leben gekommen sind. Es gab relativ wenige Tote durch Bodenkämpfe. Insofern ist es ein ungewöhnlicher Krieg. In Kundus, Masar-i Scharif und Tora Bora hat es Kämpfe gegeben und um Kandahar einige Feuergefechte. Die Nordallianz war zu einem größeren Bodenkampf nicht bereit. Sie wartete lieber auf die amerikanischen Bomber, um die Frontlinien der Taliban zu zermürben. Die meisten Opfer gab es also bei Luftangriffen.
Waren Sie über die Anzahl der Opfer überrascht?
Ja, sehr. Die Propaganda des US-Verteidigungsministeriums, und ich benutze bewusst das Wort „Propaganda“, wollte uns glauben lassen, dass es dank der eingesetzten zielgenauen Waffen nur wenige zivile Opfer geben würde. Wie sich herausstellte, war genau das Gegenteil der Fall.
Das Bild vom Präzisionskrieg, der Unschuldige verschont, war also ein Märchen?
Ja, es war falsch. Es ist ein gutes Beispiel, dass eine angeblich überlegene Technologie in einem bestimmten Kontext nicht die gewünschten Erfolge bringt.
Das Pentagon verkauft den Militäreinsatz als Erfolg und begründet ihn dadurch, dass Low-Tech-Mittel mit High-Tech-Waffen kombiniert wurden.
Das stimmt nur zum Teil. Soldaten sind zwar auf Pferden durch die Berge geritten, um Ziele für satellitengesteuerte Raketen ausfindig zu machen. Bei den Luftschlägen wurden dann aber sowohl konventionelle Waffen eingesetzt als auch so genannte Smart Bombs. Letztlich kommt es darauf an, wo die Bomben fallen. Wenn man sich aber im Pentagon entscheidet, 1.000-Kilogramm-Bomben über Wohngebieten von Städten und Dörfern abzuwerfen, wo in einem Radius von 200 Metern alles zerstört wird, ist es Heuchelei, wenn sich die Militärs verwundert über zivile Opfer äußern.
Was unterscheidet den Luftkrieg in Afghanistan von dem gegen den Irak?
Im Luftkrieg gegen den Irak starben zwar viele irakische Soldaten, jedoch nur wenige Zivilisten. Die Angriffe wurden vor allem gegen Truppeneinheiten geführt. In Afghanistan gab es einige Einsätze von Bombern gegen Talibantruppen. In der Tora-Bora-Region wurden massive Luftangriffe mit Flächenbombardements geflogen, wobei eine erhebliche Anzahl von Siedlungen zerstört wurde. Von dort habe ich sogar Augenzeugenberichte über Opfer und Verwüstungen.
Waren Sie gegen den Militäreinsatz?
Ja absolut. Es war eine unkluge Entscheidung. Ich glaube nicht, dass die Menschen in Amerika nun sicherer sind. Ich glaube nicht, das wir im Ausland fortan mehr geschätzt werden. Wir werden vielleicht mehr gefürchtet. Auch die ursprünglich angekündigten Ziele, die Verantwortlichen zu verhaften oder auszuschalten, wurden nicht erreicht.
Jetzt will das Pentagon Milliarden US-Dollar in die weitere Entwicklung des unbemannten Luftkrieges und neuer Aufklärungstechnologien stecken.
Die Bilanz der viel gerühmeten High-Tech-Waffen ist schwach. Ussama Bin Laden ist vermutlich in einer Rikscha geflohen und Talibanchef Mullah Omar auf einem Motorrad – so viel zu der Wirksamkeit unserer milliardenteuren Aufklärungssysteme. Sicher sind die modernen Waffen treffgenauer als in Vietnam oder im Irak. Die Gegner werden sich über kurz oder lang jedoch anpassen und nicht mehr den Fehler der Taliban machen, sich in eine traditionelle Schlacht verwickeln zu lassen, wo sie natürlich weit unterlegen sind, wie in Kundus wo sie die Amerikaner zum Abschlachten fast eingeladen haben. Die Taliban haben vor allem aufgrund einer schlechten Militärstrategie verloren. Sie hätten vom Irak lernen können, wo eine vielfach besser ausgerüstete Armee in wenigen Tagen von den Amerikanern zerstört wurde. Doch die neuen High-Tech-Waffen sind keine Antwort auf ein Terrornetz wie al-Qaida. Sie sind lediglich ein Weg, den militärisch-industriellen Sektor in den USA mit lukrativen Milliardenaufträgen zu versorgen.
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