: Stasiakten zu, Forschung ade
Nach dem Kohl-Urteil fürchten Wissenschaftler ein Ende der Aufarbeitung der DDR-Diktatur. Selbst Akten über Nazis könnten gesperrt werden. Wenn das Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht korrigiert wird, planen Historiker den Gang nach Karlsruhe
von RALF GEISSLER
Marianne Birthler macht Ernst. Die Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde lässt bis Freitag alle ihre Ausstellungen geschlossen. Auch 5.000 ihrer Internetseiten sind bis dahin gesperrt. Früher wurde hier aus diversen Stasiakten zitiert. Jetzt steht auf der Hauptseite: „Auf Grund des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. 3. 2002 zu den Stasi-Akten von Dr. Helmut Kohl muss überprüft werden, ob einzelne Informationen im Widerspruch zum Urteilsspruch stehen.“
Überzogener Aktionismus? Um Helmut Kohl ging es in den Aktenauszügen auf der Internetseite schließlich nie. Auch in Birthlers Ausstellungen spielt er keine Rolle. Doch die Behörde geht davon aus, dass ein Präzedenzurteil gefällt wurde, auf das sich andere berufen können – selbst SED-Funktionäre. Denn auch sie wurden von ihrem Geheimdienst observiert und sind folglich Betroffene wie Kohl. Material über sie darf Birthler nicht mehr herausgeben.
Zu spüren bekommt das zum Beispiel Stefan Wolle. Der Historiker recherchiert über den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953. „In den Akten stehen eine ganze Reihe von prominenten Zeitzeugen.“ Doch ändert der Bundestag das Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht, kommt er an das Material nicht heran. Für diesen Fall schwebt ihm bereits der Gang nach Karlsruhe vor: „Mehrere Historiker erwägen eine Sammelklage beim Bundesverfassungsgericht.“ Sie fürchten eine Ende der Geschichtsaufarbeitung. Die Chance einer Gesetzesnovelle schätzt Birthler selbst schlecht ein: Der Bundestagswahlkampf sei „keine gute Zeit für einen überparteilichen Konsensbeschluss“, der für das Stasi-Unterlagen-Gesetz so wichtig sei, erklärte sie gestern. Gegenwärtig machen sich nur die Grünen und einige Teile der SPD für ein neues Gesetz stark.
Der Kreis der Prominenten, die sich nun hinter Kohls Rücken verstecken können, ist groß. Neben SED-Kadern gehören dazu ausspionierte Terroristen und gedopte DDR-Sportler. Selbst ehemalige Nazigrößen, über die von der Stasi Akten angelegt wurden, können nun die Sperrung ihres Materials verlangen. Sie sind allesamt wie Kohl Betroffene der Observierung. Eine absurde Situation.
„Das Urteil steht im völligen Gegensatz zum bundesdeutschen Archivrecht“, sagt der Totalitarismusforscher Klaus Dietmar Henke. Dieses räume Prominenten nur einen reduzierten Persönlichkeitsschutz ein. „Historisch Handelnde dürfen das Licht der historischen Klarheit nicht scheuen.“ Zur Aufhellung seien die Stasiakten besonders geeignet. Es handele sich um „die bedeutendste sozialgeschichtliche Quellensammlung der Welt“.
Nicht nur um die Historie, sondern auch um seine Zukunft sorgt sich Christoph Links. Der Verleger hat sich auf DDR-Geschichte spezialisiert. „Die Hälfte meiner Bücher hätte nach dem Urteil nicht geschrieben werden dürfen“, schätzt der Unternehmer. Ob er bereits Erschienenes weiter vertreiben darf, hängt von der Urteilsbegründung ab, die noch aussteht. Verbietet das Bundesverwaltungsgericht die Verwendung von Akten Betroffener generell, sieht es schlecht für ihn aus. Untersagt es lediglich die Herausgabe von Material durch die Behörde, kann bereits Gedrucktes weiter erscheinen. Links’ neuestes Buch über die Filmpolitik der DDR kam gestern jedenfalls trotz Kohl-Urteil auf den Markt – inklusive Stasi-Quellen über Personen der Zeitgeschichte. „Ich bin zu vorauseilendem Gehorsam nicht bereit“, sagt der Verleger.
Dass in bereits bestehenden Publikationen geschwärzt werden muss, hält auch der Historiker Stefan Wolle für extrem unwahrscheinlich. So etwas habe noch nicht einmal in Diktaturen funktioniert.
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