: Stillgelegt und ausgebrannt
Ganz klar: Es gab schon bessere Zeiten für den Kanzler. Die ökonomischen Daten sind einigermaßen besorgniserregend. Auf dem Arbeitsmarkt hat es die avisierte positive Wende nicht gegeben. Bei vielen der ursprünglichen Reformprojekte hakt es. Das kreidet man allmählich auch dem Chef der Regierung an. Dennoch: Insgesamt sieht es nach wie vor nicht schlecht für Schröder aus. Die Umfrageergebnisse sind noch halbwegs ordentlich; die christdemokratische Opposition irrt weiterhin suchend durch die politische Landschaft; der grüne Koalitionspartner verhält sich verlässlich devot; neue Koalitionsoptionen wurden für den Fall der Fälle immer einmal wieder taktisch raffiniert ins Spiel gebracht. Und die eigene Partei, diese einst so schwierige Truppe aus Idealisten und Ideologen, macht jetzt alles diszipliniert mit, ist ganz ungewöhnlich folgsam, muckt nicht auf, nörgelt nicht herum. Sie folgt dem Kanzler gehorsam in der Vertrauensfrage; sie ordnet sich ihm ohne Protest und Opposition auf Parteitagen unter.
Die SPD regiert. Aber deshalb sind die Sozialdemokraten an der Basis der Partei nicht glücklich. Sie sind aber auch nicht verzweifelt oder wütend, wie noch in den letzten Jahren der Regierung Schmidt. Die Sozialdemokraten sind einfach nur ratlos. Ihnen sind die Maßstäbe und Ziele abhanden gekommen, die man braucht, um politisch mit Gewissheit und Impetus handeln zu können. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren sie noch mit Inbrunst und Eifer dabei, weil sie an die Grundaxiome sozialdemokratischen Weltanschauung felsenfest glaubten: wirtschaftliche Mitbestimmung, demokratische Rahmenplanung, gewaltfreie Außenpolitik, vielleicht auch Investitionslenkung, später dann – unter Führung eines gewissen Oskar Lafontaine – die sozialökologische Gesellschaftsreform.
Mittlerweile aber ist der Zauber all dieser Formeln längst verflogen. Geblieben war in den Neunzigerjahren zunächst allein noch die Kampfparole von der „sozialen Gerechtigkeit“. Hierfür haben sich 1998 noch einmal eine Menge Fußsoldaten der SPD in das Wahlkampfgetümmel gestürzt. Aber dann kam die „Neue Mitte“, kam das Schröder/Blair- Papier, kamen die ungeduldigen Supermodernisierer wie Wolfgang Clement, die nicht mehr von Gerechtigkeit, sondern von dynamischem Wachstum und forciertem Wandel sprachen, ganz so wie zuvor die stets empört attackierten „Neoliberalen“. Und dann gab es schließlich die Militäreinsätze, die noch zu Zeiten von Kohl für jeden guten Sozialdemokraten ganz undenkbar gewesen wären. Am Ende jedenfalls lag die herkömmliche sozialdemokratische Vorstellungswelt in Trümmern.
Und deshalb kam selbst bei Schröders gefeiertem Coup, der Steuerreform im Sommer 2000, keine Begeisterung an der sozialdemokratischen Basis auf, erst recht nicht bei der Rentenreform im Frühjahr 2001. Die sozialdemokratischen Basisaktivisten können an ihren Infoständen auf den Marktplätzen der Republik nämlich nicht mehr überzeugend erklären, warum das alles gut sozialdemokratisch sein soll, was die Regierung in der Steuer-, Renten- und Konsolidierungspolitik da so treibt. Es fällt ihnen schwer, die Steuerfreistellung der Veräußerungsgewinne großer Kapitalgesellschaften mit dem Versprechen der „sozialen Gerechtigkeit“ in Einklang zu bringen. Sie wissen nicht, wie sie es begründen, warum sie sich für das einsetzen sollen, was die Regierung in Berlin macht. Deshalb sind sie stumm, passiv, gelähmt.
Nun gibt es da in der SPD-Wahlkampfzentrale, der „Kampa“ Numero 2 (und wohl auch im Kanzleramt), einige ganz coole Politstrategen, die das alles gar nicht weiter schlimm finden. Denn für sie ist Politik ein professionelles Geschäft, in dem Laien mit ihrem oft trotzigen und inflexiblen Idealismus lediglich stören. Dummerweise aber scheinen auch hochmoderne Parteien in hochkomplexen Mediengesellschaften ohne diese altertümlichen Basisaktivisten nicht ganz auszukommen. Parteien brauchen nach wie vor einige Tausendschaften von Aktivisten, die von ihrer Sache überzeugt sind, die nur deshalb überzeugend auftreten und glaubwürdig argumentieren können, die in den Lebenswelten und Assoziationen der Gesellschaft präsent sind. Hat eine Partei diese Aktivisten nicht, dann geht sie bei Wahlen unter, selbst wenn ihr von Werbespezialisten die schönsten und griffigsten Slogans aufgeschrieben worden sind.
Gewiss: Die Deaktivierung ihrer Mitglieder und des Funktionärskörpers hat Schröder das Regieren erheblich erleichtert. Er konnte nach außen als Chef einer geschlossenen Truppe auftreten, was das Wahlvolk denn doch mehrheitlich höher schätzt als lustvoll streitende Diskussionszirkel. Und er hat dadurch in der Tat die im Prinzip gegen alles Rot-Grüne misstrauischen Grenzwähler im Zwischenbereich von SPD und CDU bisher erfolgreich bei der Stange gehalten.
So allerdings ist die SPD nun eine eher langweilige, mit kapriziösen Individualisten nicht gerade üppig bestückte Partei. Es gibt in ihr keine nachwachsenden Programmatiker mehr; es gibt unter den Sozialdemokraten kaum noch einen Bildungspolitiker, kaum noch einen Außenpolitiker, nicht einmal einen Sozialpolitiker mit intellektuellem Esprit, historischem Begriff und konzeptionellem Sinn. Niemand in der SPD kann aus dem Stück- und Flickwerk des Regierungshandelns noch eine Choreografie des kohärenten sozialdemokratischen Reformismus komponieren.
Eben gerade darum aber steht die SPD demoskopisch besser dar als in früheren, als in lebendigeren Zeiten. Denn in der Mediengesellschaft mit ihren aufgeblasenen Scheindebatten für jeweils vier Tage hat eine Partei wohl tatsächlich keine Chance, die eine wirkliche, ernst gemeinte, ungesteuerte, harte, zähe und über Monate dauernde Kontroverse führt. Sie gilt dann sofort als hoffnungslos zerstritten, tief gespalten, unzeitgemäß verbohrt und dogmatisch, kurz: als nicht regierungsfähig.
Die SPD reüssiert also, weil sie als Partei stillgelegt ist. Zugleich aber – und das wird oft übersehen – lebt die Partei aus der Substanz der früheren wilden Jahre. Ihre treueste Wählerkohorte sind die heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen, die in jenen Jahren politisch groß geworden sind, als die SPD noch ziemlich chaotisch, aber eben auch auffällig schillernd und farbig, daher für damals junge Menschen irgendwie anziehend war. Konflikte stoßen nicht nur ab, sie binden auch, und das oft sehr nachhaltig. Vor allem: Die entscheidenden Anführer der stillgelegten Partei des Jahres 2001 haben ihr Handwerkszeug allesamt seinerzeit im Chaos der Intrigen- und Richtungskämpfe der alten SPD gelernt. Und gerade deshalb behaupteten sie sich in den letzten beiden Jahren so pragmatisch souverän in der Schlangengrube der Berliner Hauptstadt, allen voran der Bundeskanzler selbst und sein kühler, raffinierter Parteigeneral im Willy-Brandt-Haus.
So ist das Chaos von früher paradoxerweise die Voraussetzung für die Stabilität von heute. Dummerweise gilt das aber auch umgekehrt. Die Stabilität von heute könnte die Depression von morgen bedeuten. Denn in einer stillgelegten Partei ist die programmatische Fantasie erloschen, das Feuer der Kontroverse ausgetreten, die Kraft rednerischer und demagogischer Begabungen versiegt. Die ruhig gestellte Partei fördert das Mittelmaß, den berechnenden Karrieristen, den Typus des pausbäckigen Dezernenten mit Staatssekretärambitionen. Charaktere der Bauart von Schumacher, Brandt, Lafontaine oder eben auch Schröder fördert eine solche Partei nicht mehr, erst recht nicht den Typus des Visionärs, Vordenkers und eigenwilligen Ideenproduzenten. Die Sozialdemokraten werden, na, sagen wir: im Jahr 2008, wenn der Kanzler Schröder dann den Stab abgeben und weiterreichen möchte und muss, gewiss ausreichend tüchtige Kommunalpolitiker, achtbare Ministerpräsidenten, kompetente Staatssekretäre, fleißige Fachreferenten haben. Aber es kann ihnen gut passieren, dass da niemand mehr ist, der noch eine sozialdemokratische Erzählung schreiben, der die Partei neu führen, binden und orientieren, der die Republik aus dem Kanzleramt sicher regieren könnte.
Wenn, ja wenn alles so weiterginge in der SPD. Aber das muss es nicht unbedingt. Historisch hat man das bei den Sozialdemokraten schon häufig erlebt, dass nach Phasen des Pragmatismus, der Realpolitik, der nüchternen Gegenwartsorientierung ganz plötzlich wieder ideologischer Eifer, programmatisches Bekennertum, die Sehnsucht nach Transzendenz und Utopie ausbrachen. Das war so in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Und das wiederholte sich vierzig Jahre später, als alle Welt in der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft schon felsenfest vom Ende der großen Weltanschauungen überzeugt war und die Sozialdemokraten gerade erst mit ihrem „Godesberger Programm“ Abschied von einem langen ideologischen Zeitalter genommen hatten. Doch dann, gleichsam wie aus heiterem Himmel, kehrten ab 1967 die Ideologien wieder zurück, und die Auseinandersetzungen in der zuvor von Herbert Wehner mit harter Hand gezähmten SPD refundamentalisierten sich jäh und für nahezu zwei Jahrzehnte. Kurzum: Ähnliches könnte sich auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts wieder ereignen. Wieder ist die Partei stillgelegt, aber erneut lauert in mittlerer Ferne eine neu bewegte Jugend. Davon jedenfalls ist Peter Glotz, der ehemalige Parteimanager und Witterungsexperte für gesellschaftliche Kommunikationstrends, überzeugt: „Alles steuert auf eine Revolte zu“ – der „Entschleuniger“, der „Ökologisten“, vor allem natürlich: der „Antiglobalisierer“. Und das könnte dann auch in die SPD hinüberschwappen, könnte sie, wie schon in früheren Abschnitten ihrer Geschichte, wieder reideologisieren, stärker nach links treiben, unruhiger und zerrissener machen.
Allerdings muss sich die Geschichte so nicht wiederholen. Es ist sogar wenig wahrscheinlich. Jugend ist einfach nicht mehr wichtig genug in Zeiten einer mehrheitlich ergrauenden Gesellschaft. Vor allem ist Jugend für die SPD keine entscheidende, vor allem keine wahlentscheidende Größe mehr. In früheren Zeiten war das noch anders. Man kann die Geschichte der SPD in den vergangenen drei Jahrzehnten geradezu als Kohortengeschichte der geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg beschreiben.
Als die Babyboomer ab Ende der Sechzigerjahre ins Wahlalter kamen, als sie an die Universitäten drängten und mit kulturrevolutionären Losungen durch die Straßen zogen, da wandelte sich auch die SPD zu einer Partei jugendbewegter Partizipation und Emanzipation, postulierte sie Chancengleichheit und den Ausbau der Hochschulen, gab sie sich juvenil, modern und libertär. Als die Babyboomer in den Neunzigerjahren dann in die Mitte des Lebens und der Gesellschaft rückten, da mutierte auch die SPD zur Partei dieser neuen Mitte, setzte nun nicht mehr stürmisch auf Demokratisierung, Politisierung und Sozialisierung, sondern verlässlich und berechenbar auf Moderation, auf Entlastung (bei den Steuersätzen und Lohnnebenkosten), auf mehr Kindergeld, auf sichere Altersvorsorge. Sie wurde eben zur Partei der „Sicherheit im Wandel“. Das ist die gegenwärtige SPD: Sie ist die Partei vorwiegend des mittleren Lebensdrittels. In dieser Lebensphase aber sind die Menschen besonders belastet, durch den Beruf, durch finanzielle Bürden, durch familiäre Verpflichtungen. Im mittleren Lebensdrittel, so erklären uns Soziologen und Altersforscher, ist man signifikant „sozialintegriert“, verfügt über wenig Zeit, leidet unter hohen beruflichen Anforderungen, ist oft erschöpft, ruhebedürftig, entkräftet, neigt nicht zu unkalkulierbaren Experimenten. Eine Partei des mittleren Lebensdrittels ist daher nun einmal eine Partei der Müden und Ausgebrannten, ist naturgemäß eine eher stillgelegte Partei. Wir sahen es.
Doch damit könnte es bald vorbei sein. Einiges spricht dafür, dass es in der SPD in, na, etwa fünf Jahren wieder lebendiger zugeht. Doch wird das, im Unterschied zu früheren Epochen, dann nicht auf die Impulse einer radikalen Jugendrevolte zurückzuführen sein. Im Gegenteil und so paradox es auch klingen mag: Die SPD wird wieder lebendiger und diskursiver, weil ihre Kerngruppen noch weiter gealtert sein werden. Ihre geburtenstarke Anhänger- und Mitgliederschicht wird in den nächsten Jahren das mittlere Lebensdrittel verlassen. Sie wird dann die große, auf dem Wählermarkt entscheidende Gruppe der neuen, jungen Alten bilden, die die Kinder aus dem Haus haben, sich der Bürden des Berufs fast oder schon ganz entledigt haben, jedenfalls nicht mehr so mächtig unter Karrierestress stehen, die mehr Zeit finden, wieder Kraft sammeln, neuerlich Lust auf Aktivitäten und gesellschaftliche Mitwirkung zeigen. Davon jedenfalls sind die Altersforscher überzeugt: Am Ende des mittleren Lebensdrittels beginnen „die gewinnenden Jahre“, mit wieder mehr Neugier, wieder mehr Offenheit, wieder mehr Engagement, kurzum: mit einem großen Reservoir an gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten und -bereitschaften.
Die SPD wird auch weiterhin die Partei dieser quantitativ so starken Kohorte bleiben, wird sich wie in den letzten dreißig Jahren in erster Linie an den Erwartungen, Einstellungen und Ansprüchen dieser Altersgruppe orientieren. Und diese Kohorte der früheren Rebellen und gegenwärtig Erschöpften wird zwar gewiss nicht in die frühere Mentalität der ungestümen Revolte zurückfallen, aber sie wird doch stärker wieder gesellschaftlich, auch politisch mitmachen, wird deutlicher als zuletzt die Wertedimension der Politik einfordern, wird mehr als in den vergangen Jahren über Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Lebensqualitäten diskutieren und sich nicht mehr allein mit Pragmatismus, Ökonomismus und treuer Kanzlerorientierung begnügen. In die SPD wird ein altersmilder reflexiver Wertereformismus hinein- und zurückkommen, nicht stürmisch, nicht rechthaberisch, nicht militant, eher suchend und nachdenklich, aber doch eindringlich und ernsthaft. Und womöglich wird sich dieser altersmilde Wertereformismus mit der enragierten Ungeduld neujugendlicher Revolteure gegen die „Profitorientierung und Kälte“ des globalisierten Kapitalismus verbinden und so zu einer Allianz gegen den pausbäckigen Pragmatismus und Empirismus der Zwischengeneration führen.
Doch so genau wissen wir das natürlich nicht. Denn historisch war die SPD schließlich noch nie die Partei der Alten in einer ergrauenden Gesellschaft. Daran muss man sich tatsächlich erst noch gewöhnen, auch daran, dass ausgerechnet das Altern der Sozialdemokratie zu einer Reaktivierung der Partei führen könnte.
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