Reformen statt Schminke

In Monterrey haben die Industriestaaten dem Rest der Welt erneut ihren Willen aufgezwungen. Neue Impulse kommen einzig von den Globalisierungskritikern

IFG und Attack wollen „die Köpfe befreien“, die durch 25 Jahre „liberale Gehirnwäsche“ geprägt“ seien

Die UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Monterrey hat erneut klar gemacht, wo die Fronten in der Globalisierungsdebatte verlaufen. Die neoliberalen Kräfte, die in den Industriestaaten den Ton angeben, haben auf dem gestern zu Ende gegangenen Treffen die Regierungen der Dritten Welt mit aller Gewalt auf ihren Kurs verpflichtet, der dann als „Konsens“ ausgegeben wird. Demgegenüber haben die Globalisierungskritiker mit rhetorischer Rückendeckung einiger Staatschefs wie Fidel Castro oder Hugo Chávez aufgezeigt, dass das bereits im Januar fest geklopfte Abschlussdokument nichts weiter ist als der Versuch, das gescheiterte Entwicklungsmodell der letzten fünfzig Jahre fortzuschreiben. Es zeigt sich erneut: Neue Impulse gehen derzeit nur von den Globalisierungskritikern aus. Und diese sind sich über die „andere Welt“, die sie anstreben, viel einiger, als manche Kommentatoren wahrnehmen.

Die Fragestellung „Reform oder Revolution“ etwa stand gar nicht auf der Tagesordnung des Weltsozialforums in Porto Alegre im Februar. Vielmehr ging es darum, welche Weltordnung mit welchen Reformen anzustreben sei. Die anregendsten Strategiepapiere, die vorgestellt wurden, stammen von Attac Frankreich und dem „International Forum on Globalization“ (IFG), einem Netzwerk von Wissenschaftlern und Aktivisten aus allen Kontinenten. Zwar werden in Einzelfragen unterschiedliche Akzente gesetzt, doch eine Frontenstellung – hier die reformistischen Europäer, da die verbalradikalen „Verweigerer“ à la Walden Bello – gibt es nicht. Sowohl in der Analyse als auch in ihren Vorschlägen liegen beide Gruppen auf ganz ähnlicher Wellenlänge. Weder plädiert das IFG mit dem Koautor Bello für „Revolution“ oder auch nur für eine Abkopplung vom Weltmarkt, noch fordern die Franzosen eine „Weltregierung“. Im Gegenteil: Die Umsetzung von grenzübergreifend formulierten Zielen, so Attac, müsse unterschiedlich ausfallen – je nach den regionalen Gegebenheiten und „ohne Einheitsgebrauchsanweisung“.

Ähnlich wie das IFG versteht sich Attac mit seinen mittlerweile 40 Ländersektionen als „Volksbildungsbewegung“, die Reflexion und Aktion miteinander verbindet. Es gehe darum, „die Köpfe zu befreien, die durch die seit fast einem Vierteljahrhundert währende liberale Gehirnwäsche geprägt“ seien. In der Tat. Das an Orwells „Newspeak“ erinnernde Kauderwelsch der Neoliberalen hat zu einer Begriffsverwirrung geführt, die sich durch sämtliche Lager zieht. Die vehementesten Prediger des Freihandels sind zugleich die größten Protektionisten. Allein die Agrarsubventionen von USA und EU betragen jährlich rund 300 Milliarden Dollar. Der „Dritte Weg“ eines Tony Blair meint nicht etwa eine Alternative zu Kapitalismus oder Realsozialismus, sondern die mit wohl klingenden Worthülsen verschleierte Variante des Neoliberalismus. „Reformer“ oder „Modernisierer“ sind nicht mehr die Kräfte, die mehr soziale Gerechtigkeit anstreben, sondern jene, die die Demontage des Wohlfahrtsstaats vollstrecken.

Globalisierung kann als historischer Prozess der Herausbildung und Festigung kapitalistischer Weltwirtschaft unter der Führung Europas und der USA gesehen werden. Dieser Prozess reicht mindestens 500 Jahre zurück, hat Mitte der Siebzigerjahre eine besonders aggressive Gangart eingeschlagen und nach dem Mauerfall eine weitere Beschleunigung erfahren. Teile der Bewegung sehen in dieser Entwicklung das derzeitige Ergebnis der Globalisierung: die durch IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) abgesicherte Weltherrschaft der Konzerne. Aus letztgenannter Definition hat der philippinische Soziologe Bello auch den provokativ gemeinten, aber missverständlichen Begriff der „Deglobalisierung“ abgeleitet. Wieder andere legen die Betonung auf den technischen Fortschritt, der die Handels-, Finanz- und Informationsströme in nie gekannten Ausmaß beschleunigt hat. Weil Globalisierungskritiker diese Entwicklung kritisch sehen, ist es besonders beliebt geworden, sie als rückwärts gewandte Maschinenstürmer zu karikieren. Nur: Dieses Zerrbild wird dem Gros der Bewegung nicht gerecht.

Ausgangspunkt der Globalisierungskritik ist eine radikale Auseinandersetzung mit der bestehenden Weltordnung, in der eine Hand voll reicher Industriestaaten den Ton angeben. „Die Entscheidungsmechanismen in den internationalen Finanzinstitutionen“ seien „praktisch geheim“, diagnostiziert Attac, und unabhängig vom Wählerwillen funktioniere die EU wie eine „unerbittliche Liberalisierungs-, Privatisierungs- und Flexibilisierungsmaschine“. In Deutschland werde dieses Projekt absurderweise von einer rot-grünen Regierung vorangetrieben, in den Entwicklungsländern durch das Bretton-Woods-Trio und seine Auflagen. Das IFG kritisiert vor allem „das dahinter stehende, einseitig wachstumsorientierte Entwicklungsmodell“. Möglichst alles, bis hin zu Saatgut und Genen, solle privatisiert und kommerzialisiert werden. Exportorientierung und Handel würden zum Allheilmittel verklärt.

Genau diese Ideologie liegt auch dem so genannten Monterrey-Konsens zu Grunde, den der Norden soeben dem Süden aufgezwungen hat. Im Attac-Manifest wie auch im IFG-Konzept dagegen scheinen bereits Visionen einer alternativen Weltordnung durch. Beide fordern eine Machtbeschneidung der WTO und lehnen die „Politik auf Kosten der Armen“ ab, die bis heute die Praxis von IWF und Weltbank in den Ländern des Südens bestimme. Für den Fall, dass grundlegende Reformen weiterhin verhindert werden, fordern die Globalisierungskritiker die Abschaffung der dafür verantwortlichen demokratisch nicht legitimierten Bürokratien. In der griffigen Formel der US-Amerikanerin Lori Wallach vom IFG heißt das: „Shrink or sink!“

Das neoliberale Kauderwelsch hat zu einer Begriffsverwirrung geführt, die sich durch sämtliche Lager zieht

Geht es nach den Globalisierungskritiker, dann soll in jedem Fall das internationale Machtgefüge umgebaut und dabei die UN-Teilorganisationen demokratisiert und gestärkt werden. Komplementär dazu umreißt Bello mit dem Begriff „Deglobalisierung“ das Bestreben, darüber hinaus den Schwerpunkt politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen zurück auf regionale, nationale und lokale Ebenen zu verlagern. Attac füllt dieses abstrakte Modell am Beispiel der EU mit konkreten Forderungen. Dazu gehören die Umverteilung von Arbeit, die Verteidigung des staatlichen Erziehungs-, Gesundheits- und Rentensystems, eine gerechtere Besteuerung von Einkommen und Vermögen, die Ausweitung kooperativer Wirtschaftsformen, der Erhalt kultureller Vielfalt und der Schutz von Gemeinschaftsgütern wie Wasser, Luft und Saatgut vor dem Zugriff der Konzerne. Diese Maßnahmen wären zu ergänzen durch vom IFG entwickelte nachhaltigen Alternativen für die Schlüsselbereiche Energie, Transport, Landwirtschaft und Industrie.

Eine solche Politik wird nur mittels verstärkter Kontrolle der Politiker und der von ihnen eingesetzten Technokraten durchgesetzt werden können – also durch eine Erneuerung und Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie. GERHARD DILGER