: „Es sind Geschichten von Einzelnen“
Sie identifizierten sich nicht weiblich und nahmen sich nicht so wichtig. Obwohl sie die Aktivisten der Bewegung waren, wurden sie nie so beachtet wie ihre männlichen Mitstreiter. Ein Gespräch mit Ute Kätzel, die heute ihr Buch „Die 68erinnen“ vorstellt
Interview IRENE HUMMEL
taz: Für Ihr Buch „Die 68erinnen – Porträt einer rebellischen Frauengeneration“ haben Sie viele Frauen, die in der 68er-Bewegung in irgendeiner Form aktiv waren, um ein Interview gebeten. Wie war die Resonanz auf Ihre Anfrage?
Ute Kützel: Viele der Frauen waren sehr interessiert und gerne zu den ausführlichen Interviews bereit. Es gab natürlich auch einige Ablehnungen. Außerdem war da anfangs eine gewisse Skepsis diesem Projekt gegenüber, weil die Frauen natürlich alle schon negative Erfahrungen mit Interviews und mit den Medien hatten. Eine Frau, die ich unbedingt befragen wollte – Dagmar Przytulla, die Mitgründerin der Kommune 1 – schrieb auf meinen Brief zurück, dass sie seit Jahren keine Interviews mehr gegeben hätte, trotz vieler Anfragen: Alle wollten immer nur die Klischees aufwärmen, niemand wollte wirklich ihre Geschichte hören. Aber mit mir wolle sie gerne sprechen.
Vielleicht hatte sie selbst den Wunsch, dass die 68er-Bewegung auch mal aus einer weiblichen Perspektive beleuchtet wird?
Ja, das war genau ihre Aussage. Bis heute gibt es Klischees wie das von den „Bräuten der Revolte“ oder von den Frauen als schmückendes Beiwerk und als Mitläuferinnen. In vielerlei Hinsicht waren die Frauen aber die Aktivsten der Bewegung! Sie haben auf allen Ebenen gekämpft, sowohl auf der politischen nach außen als auch auf der Familienebene, mit den Eltern und in den Beziehungen, im Zusammenhang mit Kindererziehung – sie hatten an so vielen Fronten zu kämpfen! Wie Sarah Haffner sagt: „Die Frauen waren der revolutionärste Teil dieser etwas revolutionären Bewegung.“
Diese „etwas revolutionäre Bewegung“ hat insgesamt einen neuen Umgang mit Autoritäten entwickelt und so sehr stark zur Demokratisierung beigetragen. Nicht zu vergessen die Auseinandersetzungen mit dem Thema Krieg. Auch die Geschlechterrollen wurden seitdem nachhaltig verändert. Wie sahen denn 1968 die gesellschaftlichen Rollenleitbilder für Frauen und Männer aus?
Den Männern stand die Welt offen, während die Frauen dazu erzogen wurden, eine gute Hausfrau und Mutter zu sein. Bis 1977 gab es sogar gesetzliche Vorgaben dazu: Der Ehemann konnte der Frau untersagen, berufstätig zu sein. Männer hatten dagegen die Freiheit der Berufswahl, und über 60 Prozent der Studierenden waren männlich. Die Männer hatten außerdem viele sexuelle Freiheiten.
Forderten Frauen demnach in erster Linie die Gleichberechtigung?
Die eigenen Forderungen der Frauen sind erst in der Bewegung entstanden. Das Thema Geschlechterrollen war damals ganz anders besetzt als heute. Meine These ist: Die Frauen der 68er-Bewegung haben sich nicht weiblich identifiziert, da das Rollenbild der Frau so unattraktiv war. Sie haben sich als Menschen definiert.
Mit diesem optimistischen Weltbild sind sie ja auf die Nase gefallen, sobald sie Kinder bekamen.
In dem Moment, wo sie Mütter wurden, stellten die Frauen unweigerlich fest, dass die Männer nicht bereit waren, Reproduktionsaufgaben zu übernehmen, allenfalls irgendwelche Dienste in den Kommunen. Viele Frauen mussten deshalb ihr Studium aufgeben. Die bestehenden Kinderbetreuungseinrichtungen waren für eine antiautoritäre Bewegung nicht akzeptabel. Deshalb wurden dann die Wohngemeinschaften oder Kommunen gegründet, in denen die Kinder von allen reihum betreut wurden – und natürlich die Kinderläden, angestoßen in erster Linie vom „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“.
Die Frauen im „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ kritisierten, dass die „Revolutionäre“ sich mit der Revolution befassten, aber nicht mit der Veränderung des eigenen Selbst. Else Regehr sagt in deinem Buch auch: „Für viele Männer des SDS war die Psyche Weiberkram.“ Warum hatte das zunächst keinen Platz in dieser sich als revolutionär begreifenden Bewegung?
Die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit, das kritische Hinterfragen der eigenen Rolle und ihrer Aufgabe in der Gesellschaft, das wollten die Männer nicht mitmachen, denn dann hätten sie auch ihre Privilegien abgeben müssen. Die Frauen haben also aus der Bewegung heraus Forderungen entwickelt, die sie aber nicht gestellt hätten, wenn sie nicht mit in dieser Bewegung gewesen wären. Denn die Bewegung war eine antiautoritäre Bewegung, und die Frauen, die dort aktiv waren, hatten sich damit automatisch in die Geschlechtsrollenfrage katapultiert. Gegen Autoritäten sein, hieß nicht nur gegen den Vater, gegen den Universitätsprofessor, sondern auch gegen den eigenen Mann oder Partner zu rebellieren. Die Frauen mussten erkennen, dass sie damit gleichzeitig gegen die ihnen zugedachte Rolle rebellierten.
Warum wurde von oder über Frauen der 68er-Bewegung bislang so wenig geschrieben? Nehmen die Frauen sich und ihre Lebensgeschichten nicht wichtig genug?
Das ist sicher ein Punkt. Männer machen sich gerne zu den großen Heroen. Frauen betonen leider zu sehr, dass sie „mitgemacht“ haben, dass sie in einer Gruppe waren, dass ein Wir-Gefühl da war.
Gibt es noch mehr Unterschiede in der Reflexion von Männern und Frauen?
Einige der 68er-Männer haben Bücher geschrieben, in denen sie ihren Alltag beinahe ganz auslassen: die Lasten der sexuellen Revolution, die durchaus auch Männer betrafen.
Dass mehr die Männer bekannt wurden, hat sicher auch mit der damaligen Mediendarstellung zu tun.
Ganz genau. Die meist männlichen Reporter bei Stern, Spiegel, Konkret benannten immer wieder dieselben Männer, die noch heute in den Archiven zu finden sind und die folglich auch immer wieder zum Thema 1968 interviewt werden.
Waren die 68er-Männer tatsächlich sichtbarer?
Die Universitätsdiskussionen gelten als entscheidend für die Bewegung. Männer veröffentlichten mehr, waren öfter Redner auf großen Veranstaltungen. Die Frauen waren eher alltagsverändernd tätig, kulturrevolutionär. Viele Frauen betonen, dass die Arbeit in den Kleingruppen die Bewegung mehr voranbrachte als zum Beispiel die oft in unverständlichem „Soziologenkauderwelsch“ vorgetragenen Reden auf großen Versammlungen.
Heute sind viele der 68er-Männer Professoren, und einer, damals Mitläufer, ist Außenminister. Ist das ein Abbild der Gesellschaft oder steckt da mehr dahinter?
Einige der Frauen sind sehr weit gekommen. Susanne Schunter-Kleemann ist Professorin und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht; Frigga Haug ebenso; Helke Sander macht Filme und war 20 Jahre lang Professorin usw. Aber ich würde schon die These wagen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen zwar ein Grund sind, aber die Frauen auch nicht einfach alles machen konnten, wenn sie sich selbst treu bleiben wollten!
Was waren Ihre Auswahlkriterien für die im Buch dokumentierten Frauenleben?
Mir war sehr wichtig, dass die Bandbreite der Bewegung sichtbar werden konnte. Das spiegelt sich in dem Buch so wider: Es gibt zwei Frauen aus dem SDS, dann Frauen aus den verschiedenen Kommunen, auch aus der Kommune 1 Ost. Sowie Frauen aus anderen Zusammenhängen wie Annette Schwarzenau, die als Krankenschwester bei der Kinderladenbewegung aktiv war; oder Hedda Kuschel, die als Mutter von drei Kindern erstmal einen langen Weg zurücklegen musste, um überhaupt die eigene Befreiung leben zu können. Mir war auch wichtig, dass die Frauen etwas Eigenes gemacht hatten. Deshalb ist auch Gretchen Dutschke dabei, nicht nur weil sie sehr nah dran und damit eine wichtige Zeitzeugin war, sondern auch weil sie vorher schon eine Geschichte als Beatnik-Dichterin hatte. Sie hat die Kommunebewegung mitgegründet und damit überhaupt den Anstoß dazu gegeben, dass die K 1 und die K 2 entstanden.
Jedes Kapitel in Ihrem Buch beginnt mit „Ich“. Warum?
Mein Buch soll zwar insgesamt das Porträt einer Frauengeneration sein, aber dennoch sind es die Geschichten von Einzelnen, deshalb das ganz bewusst gewählte „Ich“ an jedem Anfang. Die Bewegung als Ganzes war sehr stark von einem Wir-Gefühl geleitet. In den Interviews hieß es auch fast immer „wir“, und wenn ich dann nachgefragt habe, war es für die Frauen schwer, genau zu sagen, welchen Anteil sie selbst an den Dingen hatten.
Wo waren eigentlich die Lesben damals?
Es gab sie sicherlich, aber die sexuelle Revolution war eine heterosexuelle. Auch die Schwulen, wie manche SDS-Größen, haben sich absolut versteckt. Es gab aber viele lesbische Erfahrungen unter den Frauen. Es heißt sogar, mancher Gruppensex sei nur deshalb zustande gekommen, um auf diese Weise endlich auch mal Sex mit einer Frau zu haben. Manche Frauen sagten mir auch: schade, dass ich das damals nicht mehr ausgelebt habe. Aber dieses Lesbischleben, das kam erst mit der Frauenbewegung. Deshalb sind in meinem Buch keine Lesben im eigentlichen Sinne vertreten, wohl aber als Frauen mit lesbischen Erfahrungen. Aber genau das ist das Abbild der Bewegung.
Was ist Ihr persönlicher Bezug zu 1968 und zu den Frauen?
Ich bezeichne mich als Feministin, und meine wichtigste politisch aktive Zeit war die Frauenbewegung ab Mitte der 70er-Jahre. Für mich war die Zeit davor immer total spannend: Das waren die Vorbedingungen der Frauenbewegung, auf die wir als Feministinnen aufbauten.
Welche feministischen Forderungen brauchen wir heute noch?
Kurz gesagt: Wir könnten wieder mehr Rebellion wagen und lustvoll gegen Erwartungen und die immer noch bestehenden Rollenvorstellungen anleben.
Buchpremiere heute, 20 Uhr, Heinrich-Böll-Stiftung, Rosenthaler Str. 40–41, Mitte
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