: Ein politisches Symbol
Der neue Internationale Strafgerichtshof in Den Haag kann allein durch seine Existenz zu einer Zivilisierung aktueller Konflikte beitragen. Das ist ein diplomatischer Erfolg der EU
Wohl selten ist ein Gerichtshof mit so viel Begeisterung gefeiert worden wie letzte Woche der neu eingerichtete Ständige Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der künftig in Den Haag tagen wird. Vor allem Nichtregierungsoganisationen, die sonst wenig Vertrauen in die Wirkungsmacht des Strafrechts haben, sind enthusiastische Verfechter des IStGH. US-Präsident George W. Bush, der ansonsten bei jeder schlechten Gelegenheit verkündet, wie heilsam die Wirkung harter Strafen sei, müht sich hingegen jetzt noch mehr als sonst, das neue Strafgericht wirkungslos zu machen.
Was auf den ersten Blick verblüfft, hat mit den unterschiedlichen Erwartungen zu tun, die an den IStGH und die anderen Strafgerichte gekoppelt werden. Das herkömmliche Strafrecht ist konservativ, es soll gesellschaftliche Verhältnisse stabilisieren. Das internationale Strafrecht, für das der IStGH steht, soll dagegen Verhältnisse verändern, ja sie zum Besseren wenden. Es ist ein Strafrecht, das gegen Diktatoren und Kriegsverbrecher gerichtet ist, gegen „Feinde der Menschheit“, wie es in der Literatur zum Thema immer wieder heißt.
Diesen hehren Ansprüchen kann das internationale Strafrecht aber nicht genügen, denn es folgt, zumindest wenn westlichen Standards zugrunde gelegt werden, einer ganz anderen Logik. Denn der Beschuldigte in einem Strafverfahren ist erst mal kein „Feind“, den es zu bekämpfen gilt, sondern ein Einzelner mit Schutz- und Abwehrrechten, der einer machtvollen Institution ausgesetzt ist. Für ihn gilt zu allererst die Unschuldsvermutung. Auch das Verbot, Beweismittel zu erpressen oder durch Folter zu gewinnen, signalisiert, dass eine Verurteilung nicht um jeden Preis erfolgen soll. Vorrang hat ein faires Verfahren. Schon hier drohen Kollisionen mit einem Strafrechtsverständnis, wie es die Debatte um den IStGH prägt, das vor allem die Genugtuung für die Opfer im Auge hat. Der absolute Charakter von Straftaten wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit, die vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden sollen, bringt jedenfalls das herkömmliche Verständnis von einem liberalen Strafrecht an seine Grenzen. Das gilt auch für den Zweck der Strafe, die etwa in unserer Rechtsordnung nicht Vergeltung oder Abschreckung bewirken, sondern das Vertrauen in die Normen stärken und die Wiedereingliederung des Täters ermöglichen soll.
Auf nationaler Ebene mögen Probleme, wie sie die Strafverfolgung der Verbrechen gegen die Menschheit oder von Völkermord mit sich bringen, wenigstens theoretisch ansatzweise aufzufangen sein. Hier sind Gerichte in ein System der Gewaltenteilung und der internen Kontrolle integriert, das etwa in einer Institution wie dem Bundesverfassungsgericht seinen Ausdruck findet. Hier gibt es auch eine Öffentlichkeit, die wenigstens mittelbar auf Fehlentwicklungen reagiert.
Auf internationaler Ebene funktioniert keiner dieser Mechanismen, wie besonders die Erfahrung mit dem Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien deutlich zeigt. Dessen Entscheidung, gegen die Nato-Truppen wegen der Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht im Verlauf des Kosovokrieges 1999 nicht einmal Ermittlungen, geschweige denn ein Verfahren einzuleiten, ist ja nicht, wie kürzlich in der taz suggeriert, eine Panne des internationalen Strafrechts. Es ist Ausdruck grundsätzlicher Defizite, mit denen auch der IStGH zu kämpfen haben wird. Eine internationale Öffentlichkeit, die mehr als politische Lobbyarbeit leisten könnte, gibt es nicht. Auch von einer Gewaltenteilung ist das System internationaler Instutionen weit entfernt. Da keine internationale Polizei existiert, sind die Strafgerichte wie das in Den Haag auf die Zusammenarbeit mit den Armeen einzelner Nationen angewiesen. Nur sie sind in der Lage, Beweise zu sichern oder Beschuldigte festzunehmen. Das bringt das Gericht in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Staaten, in Falle Jugoslawiens gegenüber den Nato-Staaten. Da auch die Finanzierung der internationalen Strafgerichtsbarkeit Sache der Nationalstaaten ist, erwächst hier eine zusätzliche Möglichkeit der Einflussnahme, insbesondere der reichen Unterstützerstaaten.
Gleichzeitig gibt es im internationalen Strafrecht kein Legalitätsprinzip, das die Verfolgung der Verbrechen erzwänge, für die das Strafgericht in Den Haag zuständig ist. Die Einleitung der Verfahren erfolgt also stets selektiv und wird von politischen Interessen mitbestimmt.
Internationales Strafrecht ist damit viel politischer als nationales Strafrecht, zumal es schlechter zu kontrollieren ist. Darin dürfte übrigens auch ein wichtiger Grund für die so aktive Mitwirkung der EU-Staaten am IStGH liegen. Am Beispiel der Debatte um die Ermittlungen gegen die Nato-Staaten vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal hat sich deutlich gezeigt: Die EU-Staaten, die sich gegenwärtig im Kontrast zu den USA als die Lichtgestalten des internationalen Strafrechts präsentieren, sind keineswegs bereit, ihre eigenen Handlungen nötigenfalls vor einem unabhängigen Strafgericht zu vertreten. Sie haben sich allerdings in realistischer Einschätzung ihrer Möglichkeiten für Kooperation statt für Konflikt entschieden. Der gegenwärtige Erfolg für den Internationalen Strafgerichtshof ist damit auch ein diplomatischer Terraingewinn für die sich immer deutlicher von den USA absetzenden EU-Staaten.
Trotz dieser Einwände hat sich gezeigt, dass die Debatte über die Schaffung eines internationalen Strafrechts wünschenswerte Entwicklungen eingeleitet hat. Die Auseinandersetzung um die Strafverfolgung des Juntachefs Pinochet ist ein solches Beispiel: nur durch seine Verhaftung in Großbritannien und die anschließende weltweite Debatte konnte auch die innenpolitische Debatte in Chile über die Verfolgung von Verbrechen aus der Juntazeit wieder entfacht werden.
Es darf auch nicht verkannt werden, dass die Straftatbestände, für die der Internationale Strafgerichtshof zuständig ist, keine neuen rechtlichen Erfindungen sind, sondern in wesentlichen Teilen auf völkerrechtlichen Verboten basieren, die in internationalen Konventionen seit Jahrzehnten festgeschrieben sind. Wenn der Beachtung dieser Vebote künftig größeres Gewicht beigemessen würde als bislang, wäre das durchaus ein großer Erfolg. Insofern könnte auch der IStGH zur allgemeinen Zivilisierung der Verhältnisse beitragen. Dafür käme es darauf an, dass der Internationale Strafgerichtshof den hippokratischen Grundsatz der Mediziner, „primum nihil nocere“ (vor allem nicht zu schaden), berücksichtigt. Wünschenswert wäre mithin, einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu haben, der möglichst nie konkret zum Zuge kommt: So könnte er den symbolischen Gehalt, den seine Einrichtung hat, zur Geltung bringen – und liefe nicht Gefahr, dass mit seiner Hilfe das Recht zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln verkommt.
OLIVER TOLMEIN
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