: Eine Stadt sucht Zuflucht
aus Erfurt und Suhl STEFAN KUZMANY und BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA
Das handgeschriebene Schild „Hilfe“ ist von der Fensterscheibe verschwunden. Beamte der Spurensicherung haben es entfernt. Die Polizei hat das imposante Jugendstilgebäude mit rot-weißen Plastikbändern abgesperrt. Doch die Beamten lassen die Trauernden zum Eingangsportal vor. Es werden immer mehr, die von früh morgens bis spät in die Nacht kommen, um der Opfer zu gedenken, Blumen abzulegen oder Kerzen zu entzünden.
Einige versuchen, ihren Schmerz in geschriebene Worte zu fassen. „Warum?“ steht auf Schildern. „Noch mal: Warum? Warum?“ Und: „Wir werden euch vermissen und nie vergessen.“ Eine Frau bringt ein Ölbild mit dem Titel „Auferstehung“, daran befestigt sie einen Zettel: „Wir trauern“. Aus Bielefeld sind Mitglieder einer evangelischen Freikirche angereist. Sie verteilen Kopien mit einem Psalm „nach dem Text der Gutenberg-Bibel“. Sprechen will hier kaum jemand.
Gegen elf Uhr am Freitagvormittag hatte der Hausmeister des Gutenberg-Gymnasiums die Polizei gerufen. In der Schule werde geschossen. Ganz in Schwarz gekleidet war der 19-jährige Robert Steinhäuser mit einer Pistole und einer Pumpgun in sein ehemaliges Gymnasium gekommen, hatte zunächst eine gerade laufende Abiturprüfung gestürmt und dann das Feuer auf das Lehrerkollegium eröffnet. Vor den Augen der Schüler liquidierte er mit gezielten Kopf- und Bauchschüssen insgesamt elf Lehrerinnen und Lehrer, eine Sekretärin, einen Schüler, eine Schülerin und einen Polizisten. Ein Viertel des Lehrpersonals ist tot. Die Schüler sehen Bilder, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kannten: leblose Körper in Blutlachen, offene Münder, aus denen Blut fließt, mit Blut bespritzte Wände.
Der Geschichtslehrer Rainer Heise kann den Schützen schließlich stoppen. Auf dem Flur spricht er den Mörder an: „Kannst mich erschießen, aber sieh mir dabei in die Augen.“ Doch der Mörder wollte nicht mehr: „Nein, Herr Heise, für heute reicht’s.“ Schnell schubst der Lehrer ihn in einen Raum und verschließt die Tür. Kurze Zeit später hallt der letze Schuss durch das vierstöckige Gebäude. Der Täter hat sich selbst erschossen. Auf der Schultoilette wird die Polizei noch etwa 500 Schuss Munition finden, im Zimmer des Täters im nahe gelegenen Elternhaus noch einmal so viel.
Einer der Trauernden vor dem Schulportal ist René, ein 19-jähriger Schüler des Gymnasiums, hoch gewachsen, lange schwarze Haare, schwarz gemalte Lippen und dunkel umrandete Augen. Er schrieb gerade eine Mathematikprüfung, als es plötzlich laut knallte. Wie viele andere hatte er zuerst an einen Scherz eines ausgelassenen Schülers gedacht oder an die Bauarbeiter, die gerade das Gebäude renovierten. Erst als er Schüsse erkannte, dann eine tote Schülerin auf dem Boden liegen sah, rannte er in Panik hinaus. „Man weiß nicht, wie man das verarbeiten soll“, sagt er leise. Den Täter kannte er vom Sehen. „Man wusste, dass er im Schützenverein war. Aber er war nicht auffällig.“
Auch ein ehemaliger Schüler ist gekommen, der schon im letzten Jahr die Abiturprüfung durchlaufen hat – gemeinsam mit Robert Steinhäuser, der durchgefallen war. „Er war kein Außenseiter, hatte aber einen begrenzten Freundeskreis.“ Und: „Wenn man ihn näher kannte, war er umgänglich.“ Für viele habe er „nach außen hin arrogant gewirkt“, sei „nicht verträglich“ erschienen. Dieses Jahr durfte Robert Steinhäuser zum Abitur nicht mehr antreten. Im vergangenen Herbst hat man ihn wegen Urkundenfälschung der Schule verwiesen. Er soll ärztliche Atteste gefälscht haben, um die Prüfung hinauszuzögern. Seine Eltern wussten davon nichts. Als er am Morgen des Amoklaufs das Haus verließ, wähnten sie ihn auf dem Weg zur Prüfung.
Der Alltag in Erfurt ist aus dem Tritt geraten. In den Tagen nach der Tat sind überall Jugendliche zu sehen, weinend, sich in den Armen haltend. Der Strom von Menschen reißt nicht ab, der sich zwischen den drei Schauplätzen der Trauer bewegt. Blumen und Kerzen vor dem Gymnasium, Andachten im Dom, Kondolenzbücher im Rathausfoyer. In der zweiten Etage des Rathauses, Raum 244, legen angehende Jäger in aller Stille ihre theoretische Prüfung für den Jagdschein ab. Ihnen ist nicht ganz wohl in ihrer Haut. Sie hätten Verständnis gehabt, sagt einer, wenn der Termin abgesagt worden wäre. Dennoch: „Die Vorbereitung hat Zeit und Geld gekostet.“ Nach der Prüfung stellen Mitarbeiter der Stadtverwaltung ein Schild im Foyer auf. „Beratung für Betroffene im Raum 244.“
Doch kaum jemand will sich beraten lassen. Weder im Rathaus noch bei den Jugendhilfsdiensten „Hautnah“ und „Schlupfwinkel“. Die Menschen suchen Zuflucht in der Masse. Tausende von Erfurtern versammeln sich im Dom, um miteinander zu schweigen und zu weinen. Pärchen halten einander in den Armen, viele haben Kerzen dabei. Sie scheinen die Kameramänner, die ihre Tränen in Nahaufnahme filmen, überhaupt nicht zu bemerken. Am unteren Ende der Domtreppe wartet ein RTL-Reporter auf den Beginn seiner Live-Übertragung. In voller Lautstärke scherzt er über das Mikrofon mit einem Redakteur: „Weißt du, wo ich nächste Woche bin? Dortmund! Ich habe eine Dauerkarte!“ Fassungslosigkeit in den Gesichtern vieler Dombesucher.
Die Jugendweihefeiern, die für dieses Wochenende angesetzt waren, werden zu Trauerfeiern. „Ihr seid alle ein Stück weiter erwachsen geworden, als euch lieb ist“, sagt der Festredner im „Kaisersaal“, einem Veranstaltungszentrum in der Innenstadt. „Autofrühling“ und Töpfermarkt sind verschoben, die Drachenflugschau ist abgesagt. Der „Urfaust“ wird nicht gespielt. Das Kabarett ändert sein Programm. Veranstaltungen mit „Vergnügungscharakter“ sind bis Freitag unerwünscht.
Siebzig Kilometer von Erfurt entfernt sollte am Samstag der König aller deutschen Schützen gekürt werden. Doch um elf Uhr vormittags, dem Termin für das Königsschießen, fährt ein weißer VW-Transporter durch Suhl, die „Stadt der Waffe“ mit ihren Gewehrfabriken. Er sammelt Plakate ein, die für den 51. Bundesschützentag geworben hatten. 2.200 Schützen sind aus dem ganzen Bundesgebiet angereist. Noch am Freitagabend war das Festkomitee entschlossen, den Wettkampf auszutragen. Während Politiker ihre Sprachlosigkeit bekundeten, fand Josef Ambacher, der Präsident des deutschen Schützenbundes, deutliche Worte: „Das Königsschießen muss stattfinden. Ich brauche den Schützenkönig.“ Erst auf Druck der Thüringer Landesregierung, so heißt es, habe er das Spektakel abgesagt.
Die größte Schießanlage Europas ist geschlossen. Vor dem Haupteingang wehen die Fahnen auf Halbmast. In der Kantine sitzen fünf junge Schützen im Alter des Amokläufers. Am Morgen erst sind sie angereist, jetzt sind all ihre Vorbereitungen umsonst. „Das wirft ein schlechtes Licht auf uns“, sagt einer über den Mörder von Erfurt, den Sportschützen mit Waffenbesitzkarte. Und jetzt auch noch die Medien. „Wenn wir einem vor die Linse laufen und das kommt im Fernsehen, dann heißt es gleich: Das ist auch so einer.“ Eine weitere Verschärfung des Waffenrechts lehnt er ab. „Das ist doch schon hart genug. Man muss sich an die Vorschriften halten. Und man darf kein Psycho sein.“
Die „Schützenklause“ auf der Suhler Schießsportanlage ist menschenleer. Nur am Stammtisch lamentiert eine Handvoll Sportschützen über das neue Waffenrecht. „Bald braucht man auch für einen Tacker eine Genehmigung.“ So ähnlich sieht es auch der Deutsche Schützenbund. Dass jeder Schütze seine „persönliche Eignung“ künftig mit einem psychologischen Gutachten nachweisen muss, kommentierte der Verband süffisant: „Hier tut sich ein neues Betätigungsfeld für Heilberufe auf.“
Bis zum frühen Samstagnachmittag sah es so aus, als wollten die Schützen zumindest ihren Festmarsch durchführen, zu einem Trauerzug umfunktioniert. Nach einer weiteren Präsidiumssitzung im Suhler Kongresszentrum wird auch der abgesagt. Der geplante Trauergottesdienst mit den Schützen fällt ebenso aus – auf die Schnelle habe sich kein Pfarrer gefunden, sagt Rainer Wickidal, Präsident des Brandenburgischen Schützenbundes. Mit 80 Verbandsmitgliedern ist er angereist, um zu feiern. Jetzt steht er verloren da mit seiner feldgrauen Uniformjacke und der grünen Krawatte, auf der gekreuzte Gewehre zu sehen sind. Die meisten seiner Kameraden sind bereits abgereist.
In Erfurt steht den Schülern und Lehrern des Gutenberg-Gymnasiums seit gestern das Rathaus als Ort der Aufarbeitung zur Verfügung. Die Schüler wollen zusammenbleiben. Und nicht, wie vom Bürgermeister vorgeschlagen, auf Schulen in der ganzen Stadt verteilt werden. Auch den Vorschlag, vor der Schule ein Mahnmal zu errichten, lehnt die Schülersprecherin ab. „An unserer Schule soll irgendwann eventuell wieder ein normaler Alltag möglich sein.“
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