: Ein einig Volk von Beckhams
Vom Manchester-Kapitalismus des 19. zum Manchester-United-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts: Fußballvereine als Leitbilder künftiger Arbeitsorganisation
Stellen Sie sich heute Abend einfach mal vor, es ginge alles gut aus. Die Menschheit versinkt weder in Gewalt noch im Müll, der Kapitalismus erfindet sich neu, statt sich zu zerstören, Produktivität und Wohlstand haben nicht etwa ihren Zenit überschritten, sondern wachsen einfach immer weiter. Haben Sie’s? Gut. Dann schalten Sie bitte RTL ein. Das, was Sie dort sehen, ist nicht nur ein Champions-League-Halbfinale; es ist ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wenn alles gut ausgeht – der Manchester-United-Kapitalismus.
Auch wenn Bayer Leverkusen und Manchester United nicht rasend viel mit der Wissensgesellschaft von morgen zu verbinden scheint – sie sind Leitbilder zukünftiger Arbeits- und Unternehmensorganisation. Denn im Profifußball stellt sich der entscheidende Produktionsfaktor des 21. Jahrhunderts selbst in den Mittelpunkt: der Mensch in seiner Einzigartigkeit. Und damit schließt sich ein Kreis der kapitalistischen Entwicklung. Mit dem Manchester-Kapitalismus begann es vor bald 200 Jahren: Kapital beutete Arbeit aus, das Unternehmen war alles, der Mensch galt nichts. Danach kam die lange Zwischenphase des stets konfliktbeladenen Gleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit. Doch mit dem Manchester-United-Kapitalismus wird das ursprüngliche Bild komplett umgedreht: Der Mensch ist alles, das Unternehmen gilt nichts – und Arbeit wird Kapital ausbeuten.
Aber fangen wir ganz vorne an. „Expropriation der Expropriateure“, Enteignung der Enteigner, war ein Schlachtruf des Kommunistischen Manifests. Für Karl Marx und Friedrich Engels war das nur denkbar durch die Aneignung der Fabriken, also des Sachkapitals, durch die Arbeiterklasse. Dass die Kapitalisten auf friedlichem Wege das Eigentum an den Produktionsmitteln wieder abgeben könnten, das war schlicht und einfach undenkbar: „Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eigenen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter.“
Und so wie die Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln, die so genannte ursprüngliche Akkumulation, „in die Annalen der Menschheit eingeschrieben ist mit Zügen von Blut und Feuer“, würde auch die Trennung der Kapitalisten von den Produktionsmitteln wohl kaum in allseitiger Harmonie ablaufen können.
Doch genau das geschieht zurzeit.
In der Wissensgesellschaft wird die Expropriation dieser Expropriateure auf verhältnismäßig unspektakuläre und gänzlich unblutige Weise Wirklichkeit. Die Kapitalisten haben zwar die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel niemals abgegeben, verlieren sie aber trotzdem.
Es handelt sich zwar um keine Enteignung im juristischen Sinn, weil das, was in den Köpfen der Beschäftigten steckt, noch nie Eigentum des Unternehmens war. Aber es handelt sich doch um eine Änderung der Machtverhältnisse, die einer Enteignung vergleichbar ist: Sowohl über den Einsatz seines impliziten Wissens als auch über die Entfaltung seines Potenzials entscheidet einzig der Mensch, der über diese Ressourcen verfügt – und niemals der Unternehmer.
Jede dieser Entscheidungen für sich ist kaum wahrnehmbar. In der Summe jedoch fügen sie sich, ganz klassisch, zu einer unsichtbaren Hand, die in diesem Fall die scheinbar unangreifbare Machtposition des globalen Finanzkapitals hinwegfegen wird – was den sichtbaren Fäusten am Rand von Weltwirtschaftsgipfeln nicht gelingt.
Am Beispiel von Bayer Leverkusen (die Spielernamen sind uns einfach geläufiger als die von ManU) hier die wichtigsten fünf Punkte, an denen die Fußballvereine die Entwicklung der Wirtschaftswelt vorwegnehmen:
a) Wer wird Millionär? Jeder! Im 20. Jahrhundert verfünfzigfachte sich die Produktivität der Industriearbeit. Wenn es gelänge, im 21. Jahrhundert die Produktivität der Wissensarbeit zu verfünfzigfachen (so lautet die Aufgabe, die uns der Management-Philosoph Peter F. Drucker gestellt hat), und wenn auch weiterhin die Löhne mit der Produktivitätsentwicklung Schritt hielten, entspräche das am Ende dieses Jahrhunderts einem durchschnittlichen Monatsgehalt von weit über 100.000 Euro – also in etwa dem heutigen Durchschnittsgehalt der Leverkusener Spieler. Und wenn der Kirch-Crash dazu führt, dass dort die Gehälter wieder sinken, entspräche das Salär der Starkicker eben nur noch dem des Durchschnittsdeutschen von 2070.
b) Entwicklung statt Beförderung: Es geht nicht darum, Karriere in der Hierarchie zu machen. Michael Ballack will nicht Klaus Toppmöllers Posten, Ulf Kirsten leidet nicht darunter, dass er kein Reiner Calmund ist. Michael Ballack wird dafür bezahlt, respektiert und verehrt, dass er Michael Ballack ist – der Trainer ist nur dafür da, aus ihm den bestmöglichen Ballack zu machen.
c) Entkopplung von Ranghöhe und Lohnhöhe: Man muss keine Karriere machen, um Spitzengehälter zu verdienen. So gut dotiert die hauptamtliche Führungsetage um Calmund und Toppmöller auch sein mag, bei einfachen Angestellten wie Ze Roberto oder Neuville landet mehr auf dem Konto.
d) Individuelle Beratung und Betreuung: Jeder der Spieler kann sich darauf konzentrieren, das zu tun, was er am besten kann – Fußball spielen. Für alles andere hat er (mindestens) einen professionellen Manager: Der führt für ihn Vertragsverhandlungen, optimiert die Außendarstellung, kurz: er kümmert sich darum, dass Top-Leistung auch top honoriert wird.
e) Innovationszwang durch Spitzenlöhne: Während die Ökonomen immer noch behaupten, dass nur verteilt werden kann, was zuvor produziert wurde, beweisen die Fußballprofis seit vielen Jahren das Gegenteil: Denn zuerst waren die sich rasant höher schraubenden Gehälter und Ablösesummen, und danach kamen die Ideen, wie die Vereine all das für die Spieler ausgegebene Geld wieder verdienen könnten. Die Produktivitätspeitsche, die jahrzehntelang die deutschen Gewerkschaften so weltmeisterlich schwangen, liegt nun in der Hand von Spielervermittlern und -beratern.
Dabei kommt es zu durchaus hässlichen Szenen, wenn Geldgeber wie Leo Kirch unter den Schlägen der Produktivitätspeitsche zusammenbrechen – und Geldnehmer wie Oliver Kahn kaltschnäuzig auf den ausgehandelten Millionen bestehen. Aber so ist das eben, wenn man ausgebeutet wird: Solange der Arbeiter (Olli Kahn) dem Kapitalisten (Uli Hoeneß) glaubhaft damit drohen kann, den Job zu wechseln (zu Real Madrid), sitzt er am längeren Hebel.
Zugegeben, noch sind nur die wenigsten Arbeitnehmer in der komfortablen Situation von Ballack, Beckham & Co. Aber das Jahrhundert des Manchester-United-Kapitalismus hat ja auch gerade erst angefangen.
DETLEF GÜRTLER
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