: Neuanfang am Ort der Liebe
aus Johannesburg MARTINA SCHWIKOWSKIund HENNER FRANKENFELD/PictureNET Africa
Die rote Soße durchweicht die beiden Brötchen auf Doctors Plastikteller, das panierte Stück Fleisch wird von seinen Fingern in kleine Stücke gerissen. „Ich bin hungrig wie ein Wolf“, sagt er und reibt sich den Bauch. Dann schaufeln seine Finger das Mittagessen in den Mund.
Für heute ist der Unterricht im Othandweni-Projekt für Straßenkinder beendet. Doctor Ndweni spult ab, was ihm seit fast einem Jahr hier beigebracht wird: unternehmerisches Denken, Computerlehrgänge und die seelische Ausrüstung für das „richtige Leben“. „Ich weiß, wer ich bin“, sagt Doctor selbstbewusst.
Zumindest an seiner Lebenserfahrung besteht kein Zweifel. Er ist 27 Jahre alt, eigentlich viel zu alt für ein Straßenkinderprojekt. Fast sein halbes Leben hat er auf den Straßen von Hillbrow verbracht. Vor zehn Jahren war dies noch ein schickes Innenstadtviertel von Johannesburg, eines der ersten, wo gegen Ende der Apartheid Weiße und Schwarze zusammenlebten. Dann kamen immer mehr illegale Einwanderer aus anderen Ländern Afrikas, die Weißen zogen weg. Heute ist Hillbrow heruntergekommen, ein Menschenleben zählt hier nichts. „Da draußen passieren die schlimmsten Sachen. Drogenhandel, Polizisten werden geschmiert, damit Nigerianer ihre illegalen Geschäfte machen können“, erzählt Doctor.
Die Einsamkeit eines heimatlosen Kindes hat Doctor Ndweni geprägt. Seinen Vater hat er nie kennen gelernt; als sein Onkel ihn nach einem Streit aus dem Haus in Soweto warf, tauchte er im Alter von 13 in den brutalen Alltag eines Straßenkindes ein. „Ich habe Klebstoff geschnüffelt und viel Alkohol getrunken“, erinnert er sich und bereut: „Ich könnte schon längst jemand sein.“
Doctor rückt seine grün-orangefarbene Jacke zurecht, auf seinem Rücken hängt ein kleiner Rucksack. Die Suppenküche im Erdgeschoss von Othandweni schließt, Doctor und seine 16 Klassenkameraden werden im fünften Stock in der Therapiegruppe erwartet, gemeinsam mit 15 Mädchen. Ihre Vergangenheit als Straßenkinder sieht man den meisten an: Ihre Gesichter sind von der bitteren Erfahrung eines Lebens in Armut und Gefahr gezeichnet.
In einer Ecke hat ein Junge seine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und ist auf dem Stuhl eingenickt. Ein anderer hat sich auf den grauen verfilzten Teppichboden gelegt und schnarcht leise. Während sich die Jugendlichen zwei Stunden lang mit Kartenspielen, Domino oder Monopoly beschäftigen, werden sie zu Einzelgesprächen zu Johan Robyn, dem Psychologen des Projekts, hereingerufen.
Einst bearbeiteten in den Räumen über dem abgetakelten Hillbrow-Theater in der Kapteijn Street die Beamten des Deutschen Generalkonsulats Ausweise und Dokumente. Als die Gegend unwirtlicher wurde, zog die Behörde aus und Othandweni ein. „Ort der Liebe“ nannten sie ihre Anlaufstelle. Finanziert von privaten Sponsoren und dem „Nelson Mandela Children Fund“, will die Organisation gestrauchelten Jugendlichen nicht nur mit einem Dach über dem Kopf und einer warmen Mahlzeit helfen, sondern sie resozialisieren.
Seit 1994 steckt Projektleiterin Leona Pienaar all ihre Energie in dieses Vorhaben. 31 Kinder werden hier unterrichtet, 200 Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren regelmäßig auf der Straße besucht – von 1.000 bis 2.000 Straßenkindern in Hillbrow. Vor wenigen Wochen tauchten drei Männer hier im fünften Stock auf und richteten ihre Waffen auf die Mitarbeiter. Leona Pienaar erlitt eine Fehlgeburt. Sie macht dennoch weiter: „Diejenigen, die es geschafft haben und jetzt in einer Pizzeria in Rosebank arbeiten oder eine Stelle im Supermarkt haben – solche Erfolge motivieren mich immer wieder neu. Es gibt eben keine schnelle Heilung für traumatisierte Kinder.“
Zwischen Hillbrows Betonhochhäusern läuft das Nachmittagsgeschäft an: Prostituierte und Dealer bereiten sich auf das lukrative Wochenende vor. Für die Kinder ist das Einwinken parkender Autos für ein paar Rand nur ein kleiner Nebenverdienst. Bessere Geschäfte machen sie als Drogenkuriere. Häufig tauchen auch weiße Frauen auf, um die Kids zum Sex abzuschleppen, erzählt Leona Pienaar.
Mit sicherem Schritt bewegt sich Wilson Nxumalo durch das Gewimmel von Gemüsehändlern und Haarschneidern auf den Gehsteigen zur Hauptachse von Hillbrow: Pretoria Street. Der Betreuer von Othandweni lebt seit 14 Jahren in Hillbrow und kennt hier jeden. „Jo, cool man“, antworten fünf Jungs, manche mit Plastikflaschen voller Klebstoff an den Mundwinkeln, auf Wilsons Frage nach ihrem Befinden. „Mein Büro ist auf der Straße“, erzählt er.
Abraham atmet und seine Flasche bläht sich auf. Er atmet wieder und er scheint noch stärker benebelt. Seine Augenlider sind geschwollen, die Zähne eingeschlagen. Die schlaksige Gestalt in Shorts und Schnürstiefeln wirkt schüchterner als die anderen vier. Etwas abseits erzählt der 17-Jährige seine typische Geschichte: Seit fünf Jahren lebt er auf der Straße. Zuvor hatte er bei der Großmutter gelebt. Doch die war nach dem Tod der Eltern mit fünf Enkelkindern schlicht überfordert. Mit zwölf Jahren auf sich allein gestellt, geriet Abraham Mohlahledgab immer tiefer in die typische Abwärtsspirale aller Straßenkids: kein Job, kein Geld, kein Zurück. „Es ist gefährlich, so zu leben“, sagt er und bittet um Geld. „Hoffnung?“, gibt er auf die entsprechende Frage zurück: „Ich bete jeden Abend, dass der nächste Tag kommt.“ Die Nähte seiner Stichwunden sind noch frisch.
Abraham fürchtet sich vor der eisigen Kälte des nahen Winters, wenn er wieder ohne Decken mit seinen Kumpels in Hauseingängen oder Bretterbuden übernachten wird. Für die Schule fühlt er sich zu alt, manchmal träumt er, Fußballspieler zu werden und Französisch zu lernen – die Sprache der meisten afrikanischen Einwanderer im multiethnischen Hillbrow.
40 Prozent der von Othandweni Betreuten stammen aus einst intakten Familien. Immer mehr Mädchen hausen mittlerweile auf den Straßen. „Sie überleben nur mit einem Freund, der für sie sorgt“, sagt Wilson Nxumalo, der Streetworker. Sie leben auch mit Misshandlungen durch Polizisten. Und sie werden vergewaltigt – Kinder kriegen Kinder. Viele von ihnen sind HIV-positiv, manche Aidswaisen. Aufklärung und Gesundheitserziehung haben für Wilson einen hohen Stellenwert. „Sie müssen Selbstverantwortung lernen. Es nützt ihnen nichts, von unserer Hilfe abhängig zu bleiben.“
Doch die Kinder brauchen ihn. Erst in der letzten Woche holten sie ihn mehrfach nachts aus dem Kirchenheim, in dem er lebt. Messerstiche oder Schusswunden mussten versorgt werden. Als einem Straßenkind in einem verlassenen Haus die Kehle aufgeschlitzt wurde, ging Wilson hin. Polizei und Rettungskräfte hatten ihre Hilfe verweigert – aus Angst. Wilson musste den leblosen Körper allein aus der Ruine tragen.
In den Projekträumen von Othandweni feixt Doctor beim Kartenspiel vor sich hin. Seine Freundin Mimi spielt mit. Sie sind seit drei Jahren ein Paar und kennen sich von der Straße. Manchmal besucht Doctor dort seine alten Freunde. Er ermuntert sie, regelmäßiger im Projekt vorbeizuschauen. „Du brauchst uns nicht zu sagen, was wir zu tun haben“, heißt es dann.
Seit acht Jahren bemüht sich Doctor, sein Leben zu ordnen. Er ließ sich von Othandweni helfen, schaffte das Abitur, doch dann wurde er rückfällig: Alkohol. Jetzt wohnt er im Männerheim des Projekts. „Es wird anders werden“, verspricht er dem Psychologen Johan Robyn im Beratungsgespräch. „Warum?“, fragt der. „Ich habe meine Fehler korrigiert.“ Doctor besucht die Kurse des Projekts, beteuert, seit Dezember keinen Alkohol mehr getrunken zu haben. „Hm“, sagt Robyn, lobt ihn dann aber: Jeder im Projekt schaue zu ihm auf, er müsse jetzt seine Zukunft in die Hand nehmen.
Doctor Ndweni meint es ernst. Er träumt von einem Auto, einem Haus und einer Ehe mit Mimi. Im Juli läuft sein Trainingsprogramm aus. Dann erwartet er eine Antwort auf seine Bewerbung, die er mit Johans Hilfe bei der Polizei eingereicht hat. „Ich will als Polizist arbeiten“, lacht er. „Vielleicht kann ich denen eine Lektion erteilen.“
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