Der salonfähige Antisemitismus

Selten in der Nachkriegsgeschichte war man sich in Europa politisch so einig wie im Hinblick auf die Lage im Nahen Osten. Woraus speist sich die Liebe zum Leiden Arafats und seines Volkes und der Hass auf den jüdischen Staat?

von ANDREI S. MARKOVITS

Die politischen Extremisten in Europa haben Israel schon immer gehasst. Die Rechte einfach wegen seines Jüdischseins. Die Linke, bis zum Sechstagekrieg von 1967 noch angetan von einem Israel unter Führung der Arbeitspartei, begann das Land danach wegen seines Militarismus und Rassismus zu verachten – und natürlich deshalb, weil das Land ein Verbündeter Amerikas ist.

Die politischen Extreme Europas treffen sich häufiger, aber nirgendwo auffälliger, als wenn es um Israel, die Juden und die USA geht. Doch selbst da schrieben die jüngsten Demonstrationen ein neues Kapitel, weil es häufig unmöglich war zu ermitteln, wo links anfing und rechts endete. In einer Reihe europäischer Städte verbrannten radikale Linke und Rechte gemeinsam mit Hakenkreuzen versehene israelische Fahnen.

Weil Haarlänge und Kleidung keine zuverlässigen Indizien politischer Zugehörigkeit mehr sind, wurden diese Demonstrationen in den meisten europäischen Ländern zum Ausweis des Zusammengehens der Radikalen beider Flügel in Sachen Israel-Palästina. Ein unauflösliches rot-braunes Gemisch bestimmte das Erscheinungsbild jener Aufmärsche, deren Ikonografie aus Tod und völkischen Slogans viel mehr mit den Faschismen der rumänischen Eisernen Garde oder der kroatischen Ustascha und natürlich dem deutschen Nationalsozialismus gemein hatte als mit Manifestationen linker Politik, gleich ob alter oder neuer Art.

Dass es Berührungspunkte zwischen links und rechts gibt, ist nichts Neues; in Ländern wie Italien, Frankreich oder Deutschland besitzen solche politischen Schnittmengen eine lange Tradition. Mit Blick auf Deutschland sei etwa auf den Nationalbolschewismus und den Strasserflügel der NSDAP verwiesen. Und auch heute existieren solche Berührungspunkte zwischen Teilen des PDS-Milieus und radikalen Rechten, genauso wie zwischen der Kommunistischen Partei Frankreichs und der Nationalen Front Jean-Marie Le Pens – gerade bei Themen wie Israel und Amerika.

Aber überraschender noch als diese Koalitionen ist der Konsens in der großen Mitte der europäischen politischen Klassen. Viele brachten ihre Enttäuschung über Israel in ungewöhnlich scharfer Empörung zum Ausdruck. Wenn überhaupt, dann haben nur wenige Krisen in der jüngeren europäischen Geschichte einen solch breiten Konsens herbeigeführt.

Nehmen wir die jüngste dieser Krisen: die vier Kriege im früheren Jugoslawien. Unterschiedliche Sichtweisen herrschten von den ersten Schüssen auf Slowenien und Kroatien im Sommer 1991 bis zum Abtritt von Slobodan Milošević im Nachtrab zur serbischen Niederlage im Kosovokonflikt. Von Anfang an gab es beträchtliche Differenzen einerseits zwischen Ländern wie Frankreich, Großbritannien und Holland, die es mehr mit der Fortführung der jugoslawischen Föderation hielten und somit de facto für Milošević und die Serben eintraten. Deutschland, Österreich und der Vatikan dagegen nahmen Partei für die Rebellen, also Kroaten und Slowenen. Unterschiedliche Auffassungen begleiteten auch den Krieg in Bosnien, und eine gewisse Angleichung der Positionen trat erst nach dem Massaker von Srebrenica ein.

Betrachtet man das Engagement der verschiedenen europäischen Länder und ihrer Öffentlichkeiten in diesem Konflikt, gab es ein sehr breites Spektrum an Reaktionen. Manche waren mit Herzblut dabei, andere blieben zurückhaltend oder gingen auf Abstand. Hinzu kamen enorme innenpolitische Auseinandersetzungen über sämtliche Aspekte dieses Konflikts.

Um Deutschland als Beispiel zu nehmen: Etwas vergröbernd lässt sich sagen, dass die Konservativen Kroatien unterstützten, während die Linke Partei für die jugoslawische Föderation nahm, wobei das sofort zu relativieren ist, weil viele Grüne und SPD-Sympathisanten für die nationale Selbstbestimmung der Kroaten und Slowenen eintraten, vorausgesetzt, dass den Minderheiten in den neuen Staaten ein besserer Schutz gewährt würde.

Viele Linke in Westeuropa empfanden für das repressive Milošević-Regime nichts als Verachtung und freuten sich, es verschwinden zu sehen. Die Tatsache, dass man niemals von einer eindeutigen linken Position im Prozess der Auflösung Jugoslawiens sprechen konnte, dass sich im Gegenteil die Linke vielfach spaltete und sich die Brüche im Laufe des zehnjährigen Konflikts öfters verschoben – das genau ist mein Punkt.

Die europäischen Öffentlichkeiten kennzeichnete ein auffallender Pluralismus in dieser Frage. Sicher, Proteste dominierten das europäische Frühjahr 1999 – bezeichnenderweise ein knappes Jahrzehnt nach Beginn des Konflikts, nach dem Massaker von Srebrenica, nach der systematischen Vergewaltigung tausender muslimischer Frauen und erst, als die Nato, geführt von den USA, zugunsten einer anderen bedrohten muslimischen Minderheit intervenierte.

Die Protestierer gingen natürlich nicht zugunsten der Kosovaren oder – in einem früheren Stadium – zugunsten der Bosnier auf die Straße. Sie engagierten sich auch nicht für die Serben, die Opfer der Nato-Bomben wurden. Die Proteste richteten sich zu allererst gegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Das allein erklärt die eigentlich Existenz der Proteste und ebenso ihre Schärfe.

Aber in deutlichem Gegensatz zu den Aufmärschen der vergangenen Wochen waren jene seltener und zogen weniger Teilnehmer an. Während man um Ostern 1999 herum einmal mehr ein Gelegenheitsbündnis zwischen extremen Linken und Rechten in ihrer Gegnerschaft zur Nato beachten konnte – in Deutschland beispielsweise entdeckten radikale Rechte, bislang stramme Verbündete der kroatischen Faschisten, plötzlich ihr Herz für Milošević und fanden sich in einer Allianz mit der PDS wieder (Artikel, die zu jener Zeit im Neuen Deutschland und der Jungen Freiheit erschienen, ähnelten sich in Tonlage und Aussagen auffällig) –, blieben die meisten Europäer auf Distanz. Mehr noch, in der öffentlichen Meinung standen sich jene gegenüber, die die Nato-Intervention als einen Akt der Befreiung begrüßten, und jene, die sie als Verkörperung unerwünschter amerikanischer Einmischung ablehnten.

Wie erklärt sich dagegen der Konsens in der Öffentlichkeit über den Nahen Osten genau drei Jahre später? Woher kommen solche Leidenschaft und Wut, die diese Sichtweise kennzeichnen? Gewiss nicht durch die Zahl der Opfer. Die war in vielen Konflikten der jüngsten Zeit ungleich höher, seien es die Kriege im früheren Jugoslawien, die halbe Million Menschen, die in Ruanda massakriert wurden, die zwei Millionen Toten, die der Bürgerkrieg im Sudan bislang forderte, oder die Ermordeten in Tschetschenien.

Ebenso wenig ist ausschlaggebend, dass es sich bei den meisten Opfern um Muslime handelt. Die Europäer kümmerte es nicht sonderlich, als zur gleichen Zeit sehr viel mehr Muslime bei Pogromen in einem Bundesstaat Indiens von einem hinduistischen Mob getötet wurden; als das syrische Assad-Regime die ihm als Hochburg des islamischen Fundamentalismus geltende Stadt Hamma dem Erdboden gleichmachte, wobei an die dreißigtausend Muslime ums Leben kamen; als Saddam Hussein Senfgas gegen die kurdische Bevölkerung des Landes einsetzte. Kurzum, arabische Regierungen haben sehr viel mehr Muslime getötet als Israel in den 54 Jahren seines Bestehens.

Mehr noch: Nimmt man die diversen (politischen und kulturellen) Daten der vergangenen zwanzig Jahre, so lässt sich ausschließen, dass eine plötzliche Empathie für Muslime und deren missliche Lage dazu geführt hätten, dass sich die Europäer fast geschlossen und mit so viel Passion auf die Seite der Palästinenser geschlagen haben. Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier, Briten, Österreicher, Schweden, Schweizer – sie schätzen ihre jeweiligen muslimischen Minderheiten (Türken in Deutschland, Maghrebiner in Frankreich, Pakistanis in England, Kurden in Schweden etwa).

Hier geht es jedoch nicht um eine Leidenschaft für etwas oder jemanden. Es geht um eine Passion gegen etwas und jemanden. Und diese negative Dimension ist es, die das explosive Gemisch bildet. Europas Stimme zum Nahostkonflikt ist nicht dem Mitgefühl für die Schwachen geschuldet, in diesem Fall für die Palästinenser. Vielmehr sprechen aus ihr Antipathie, Schadenfreude und sogar eine bestimmte Furcht und Abscheu gegenüber den Israelis und dem, was sie für viele Europär vermeintlich verkörpern.

Hinter dieser Leidenschaft steht das massive Wiederauftauchen des guten alten europäischen Antisemitismus, der, wie manche Dummköpfe glaubten, nach dem Holocaust auf wundersame Weise verschwunden sei. Das war er natürlich nicht, sondern in der Welt des Kalten Krieges nur stillgelegt. Als diese Welt 1989 an ihr Ende gelangte, veränderten sich die Diskurse über diverse Themen grundlegend, darunter auch der über die Juden.

Die Schamschwelle wurde im Verlauf der Neunzigerjahre schrittweise abgesenkt, was sich in steigenden Angriffen auf jüdische Einrichtungen (Friedhöfe, Synagogen) niederschlug und darin, dass antisemitische Ausfälle zunehmend salonfähig wurden. Ich erinnere mich, wie Ignatz Bubis einmal erzählte, dass die Drohbriefe, die er erhielt, nicht mehr wie früher anonym kamen, sondern mit Namen, Adresse und Faxnummer des Absenders versehen waren.

Diese Entwicklung führte zu der gegenwärtigen Situation, in der Daniel Bernard, Frankreichs derzeitiger Botschafter in London, öffentlich von Israel als „jenem beschissenen kleinen Land“ sprach, das die Welt fallen lassen sollte. Wie das genau auszusehen hätte, überließ er der Fantasie seiner Zuhörer. Inzwischen gehört es zum guten Ton der guten Gesellschaft, Israel nicht mehr allein seiner Politik wegen zu kritisieren, was im Übrigen völlig legitim wäre. In jüngster Zeit konnte man in Deutschland häufiger hören, endlich müsse man gegenüber Israel und den Juden kein Blatt mehr vor den Mund nehmen – als ob man das jemals getan hätte.

Quer durch alle Schichten der deutschen und europäischen Öffentlichkeiten herrscht vernehmlich ein neuer Ton. Die Absenkung der Schamgrenze hat eine Stimmung geschaffen, in der die Erleichterung der politischen Klassen und des gesamteuropäischen Diskurses fast mit Händen zu greifen ist: Endlich sind wir diesen verdammten Holocaust los!

In diesem Zusammenhang steht die Häme, mit der die Europäer und nicht nur die Deutschen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt reagieren. Seht, die verfluchten Juden, die uns eine Schamkultur aufgezwungen hatten, die uns daran hinderten zu sagen, was wir denken, sie verhalten sich genauso wie wir damals! Mit der ebenso schändlichen wie geschmacklosen Analogie von Israelis und Nazis schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen spricht man sich selbst von Schuld frei und durchlebt so ein Gefühl der Befreiung, zum anderen trifft man die ins Visier Genommenen besonders schwer, indem man sie mit jenen Tätern vergleicht, die sie (oder ihre Vorfahren) während der nationalsozialistischen Zeit fast ausgelöscht hätten.

Warum sollte man Israelis nicht Serben nennen? Oder Hutus? Oder Rote Khmer? Oder Stalinisten? Ihnen das Etikett des Nazi aufzudrücken, was die Araber jetzt gewohnheitsmäßig in ihrem Prozess der Islamisierung des Antisemitismus tun und die Europäer nun mit Begeisterung übernommen haben, ist aus den genannten Gründen sehr viel effektiver. Schließlich steht Israel für eine bestimmte Modernität, die europäische Intellektuelle von links und rechts schon immer fürchteten – und für die gleichfalls die Vereinigten Staaten von Amerika stehen.

Rechts sah man in den Juden, also in Israel, jene seelenlose, zersetzende Modernität, das Gegenteil eines bodenständigen Volkstums, das den Rechten so sehr am Herzen liegt. Und für die Linken verkörperten Amerika und die Juden einen ungezügelten Kapitalismus, der überall schlecht ist, aber seine reinste Ausprägung in diesen verwandten Gemeinschaften findet. Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch und vielleicht schon zuvor galten Amerika und die Juden der europäischen Rechten wie der Linken als negative, Furcht einflößende und besonders ablehnungswürdige Protagonisten der Moderne.

Nur das vermag die einhellige Parteinahme der Globalisierungsgegner zugunsten der Palästinenser zu erklären. Doch sind Saudi-Arabien, die Golfstaaten, Irak und Iran weniger global players als Israel? Wohl kaum.

Und warum beziehen die Globalisierungskritiker nicht Stellung für die in Tschetschenien, im Kosovo, in Bosnien ermordeten Muslime? Warum haben wir nicht ein einziges Wort von dieser Bewegung über die Sklaverei gehört, die Muslime im Sudan praktizieren?

Weshalb legt José Bové, der französische Globalisierungsgegner, so viel Wert darauf, sich in Ramallah zu zeigen und nicht in Gujarat, Indien? Getreu den Ideen des französischen Rechtspopulisten aus den Fünfzigerjahren, Pierre Poujade, und jenen von Frankreichs hypernationalistischen und bodenständigen Kleinbauern, steht nicht in erster Linie offene Feindschaft gegen Israel hinter dieser Haltung, sondern eher die Gleichsetzung der Juden beziehungsweise Israels mit den Vereinigten Staaten, die ihm als Synonym für Globalisierung gilt.

Die Irritiertheit Europas mit Blick auf die USA geht weniger auf politische Differenzen als auf unterschiedliche Werte zurück. Als die Europäer 1990 in den schwierigen Prozess der Schaffung einer Europäischen Union eintraten, legten sie Wert auf die Feststellung, eigene, von denen der Amerikaner unterschiedene, vielleicht sogar inkompatible Werte zu besitzen.

Noch auf lange Zeit wird die Frage bleiben, welche Werte und Identitäten die Europäer ihr Eigen nennen. Eines aber stellt sich immer klarer heraus: dass sie sich einen negativen Wert mit besonderem Eifer zu Eigen gemacht haben – nicht Amerikaner zu sein.

Das hilft bei der Erklärung, warum viele Europäer ziemlich schnell ihre nach dem 11. September bekundete Sympathie für die USA fallen ließen und dazu zurückkehrten, in Amerika einen ungehobelten Schläger zu sehen. Indem Israel als eine Art Verlängerung der USA gesehen wird, erreicht dieser Mechanismus negativer Identität inzwischen auch den Nahen Osten.

ANDREI S. MARKOVITS, 53 Jahre, Professor für Politik und Soziologie an der University of Michigan, Ann Arbor, veröffentlicht im Herbst in der Hamburger Edition sein neues Buch, Titel: „Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur“. Die Übersetzung seines Textes für das taz.mag besorgte ARTHUR HEINRICH