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Wo leben wir denn

Nach dem Amoklauf von Erfurt hat das Nachdenken darüber begonnen, was schief läuft in unserer Gesellschaft. Doch ihr einseitiges Selbstbild blockiert jede zukunftsweisende Antwort

von VERENA KERN

Nach den Reaktionen auf Erfurt zu urteilen, war der Amoklauf tatsächlich das Menetekel für die bundesdeutsche Gesellschaft, als das ihn die Zeit beschrieben hat. Überraschend schnell haben die politischen Parteien Zielvorstellungen formuliert: Gesetzesverschärfungen, Round-Table-Gespräche, moralischen Konsens. Und in überraschend therapeutischer Form hat eine Selbstverständigungsdebatte eingesetzt, in der wie im Zeitraffer all jene Motive auftauchen, die in den vergangenen Jahren schon als Symptome einer krisenhaften gesellschaftlichen Entwicklung identifiziert worden sind.

Die Debatte arbeitet sich an drei großen Problembereichen ab: Gewalt, gesellschaftliches Klima, Erziehung. Hier sollen mögliche Ursachen zu finden sein sowie Ansatzpunkte, wie „solche Wahnsinnstaten“ künftig verhindert werden könnten.

Bei dem ersten Punkt, der Gewalt, scheint die Lektion einfach. Da die Gewalt in den vergangenen Jahrzehnten „zweifelsohne zugenommen“ habe (Edmund Stoiber, 30. April) und dies der „Seele“ von Jugendlichen schade (Gerhard Schröder, 3. Mai), müsse eine „Barriere gegen Gewalt in der Gesellschaft insgesamt errichtet werden“ (Angela Merkel, 1. Mai), sei ein „anderer Umgang mit Gewalt“ nötig (Christine Bergmann, 27. April). Zwar hat der Kriminologe und niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer verschiedentlich auf Studien aufmerksam gemacht, wonach die Gewalt in der bundesdeutschen Gesellschaft keineswegs zugenommen hat. Dass Handlungsbedarf besteht, streitet aber auch Pfeiffer nicht ab.

Also ist eine weitere Verschärfung des Waffengesetzes beschlossene Sache, Computerspiele sollen indiziert werden können, der Kanzler spricht mit den Chefs der Fernsehsender über die „Regulierung von Inhalten“, ein „Bündnis gegen Gewalt“ ist angedacht, und dass auch die Medien verstanden haben, dokumentieren Sender wie Pro 7 und Viva, indem sie die Ausstrahlung von Filmen und Videos verschieben, die als besonders brutal gelten: Maßnahmen eben, die man trifft, wenn man völlig ratlos ist.

Vielstimmiger wird die Debatte, wenn es um das gesellschaftliche Klima und um Erziehungsprobleme geht, weil – unausgesprochen – dabei auch das Selbstbild der Gesellschaft verhandelt wird; und dieses Selbstbild ist offenkundig nicht stimmig.

Einigkeit besteht nur darin, dass gerenell etwas schief läuft, dass es, wie Bundespräsident Johannes Rau in seiner Erfurter Trauerrede formuliert hat, Defizite im Miteinander gibt. Worin diese bestehen und wer oder was dafür verantwortlich ist, darüber jedoch gehen die Meinungen auseinander.

Die Debatte trägt Krisensymptome wie Puzzleteile zusammen. Ulrich Greiner beklagt in der Zeit die „Unbarmherzigkeit“ der Gesellschaft, den „neuen Leistungswahn“ und die „gnadenlose Jagd nach Vorteilen“ (2. Mai). Die Thüringer Allgemeine erkennt im „zunehmenden Erfolgsdruck“ eine der Ursachen für den Amoklauf (29. April). Die Stuttgarter Zeitung spricht von einem „sich ausbreitenden Konsumismus, dem alles zur Ware wird nach dem Motto: Geld regiert die Welt“ (3. Mai). Immer weniger Jugendliche fänden in ihren Familien „Heimat“, schreibt die Aachener Zeitung (27. April). „Eltern und Lehrer nehmen sich zu wenig Zeit, um frühe Anzeichen und Fehlentwicklungen bei den Kindern zu erkennen“, sagt die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Eva-Maria Stange (1. Mai). Der „Mut zur Erziehung“ fehle, sagt die Union, mutwillig seien „Autoritäten wie Eltern und Lehrer in Frage gestellt“ worden, meint CDU-Vize Christian Wulff (29. April). „Mut zur Verantwortung“, fordert hingegen die Frankfurter Rundschau (30. April).

Die „Bereitschaft zum Sicheinlassen, zum Miteinander“ schrumpfe, schreibt Susanne Gaschke in der Zeit (2. Mai). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung prangert wiederum die „Hassindustrie“ des Internets an und die „Verständnisindustrie“ in der Gesellschaft, die Handeln durch endloses Erklären ersetze und damit zurechenbare Verantwortlichkeiten suspendiere (30. April).

Bei der Benennung möglicher Ursachen sortieren sich die politischen Lager. Konservative Stimmen – vom Deutschen Philologenverband, der Organisation der Gymnasiallehrer über die Union bis zu diversen Zeitungshäusern und zur katholischen Kirche – machen einen „Werteverlust“ und „Werteverfall“ verantwortlich. Die anderen – von Otto Schily bis Johannes Rau – sprechen hingegen vom Nachlassen der „gesellschaftlichen Bindungskräfte“ und warnen im Übrigen vor vorschnellen Schuldzuweisungen.

Die bildgebenden Vorstellungen sind auf beiden Seiten gleichwohl dieselben. Demnach befindet sich die Gesellschaft in einem Prozess der Entfesselung und Auflösung, einem Prozess der Erosion und des Verlusts, dessen Ergebnis in der kühlen Sprache der Soziologie „Ausdifferenzierung“ und „Segmentierung“ genannt wird.

Gewissermaßen konstruiere die Gesellschaft sich selbst, ihre Einzelteile streben, von den „zentrifugalen Kräften der Beschleunigung“ erfasst (Ulrich Greiner, Zeit, 2. Mai), auseinander. Es ist, als säßen wir in einem Gefährt, das sich rasend schnell fortbewegt, und die Fahrt ist nicht zu stoppen, allenfalls angenehmer zu gestalten, indem eine „Wertegemeinschaft“ wiederhergestellt, das heißt, die moralische Übereinkunft verbindlich gemacht wird, dass wir einigermaßen friedlich, mitmenschlich, geordnet zusammenleben wollen.

Aber die beschworene moralische Übereinkunft kommt einer Mogelpackung gleich. Denn zum einen ist die Möglichkeit des Ausschlusses all jener, die, weshalb auch immer, dabei nicht mittun können oder wollen, zwangsläufig impliziert – also genau das, was für den Erfurter Amoklauf als auslösendes Moment beschrieben worden ist. Und zum anderen ändert sich damit nichts an dem Fakt eines grundsätzlich fragwürdigen Selbstbildes.

Die bundesdeutsche Gesellschaft hat sich angewöhnt, sich selbst auf eine ganz bestimmte Weise zu beschreiben. Immer fallen dieselben Wendungen: Unsere Gesellschaft ist pluralistisch, sie ist von Individualismus geprägt, sie ist dem Liberalismus verpflichtet, sie ist offen, zivil, frei. Das alles ist positiv, auch positiv gemeint. Ein freundliches Selbstporträt, das auf Zustimmung zielt und auf Zustimmungswürdigkeit. Aber – hier liegt das Problem – im Kern sind die Selbstzuschreibungen nichts als defensiv. Ihre Hintergrundmelodie bildet der Stoßseufzer: „So ist es eben. Jetzt müssen wir halt sehen, wie wir mit dem Schlamassel fertig werden!“

Die plurale, offene, individualistische Gesellschaft erscheint als Ansammlung vieler Einzelner, die alle, jeder für sich, ihre eigene Sache machen wollen, und es bleibt nichts anderes übrig, als sie im Rahmen des gesetzlich Erlaubten gewähren zu lassen – denn sonst wäre die Gesellschaft nicht mehr liberal, pluralistisch, frei. Der Rest sind Rückzugsgefechte: der Ruf nach freiwilliger Selbstkontrolle, Selbstverpflichtung, Selbstbeschränkung, also die Aufforderung, es bitte schön doch nicht zu toll zu treiben. Die konservative Forderung nach Wiederherstellung der „Wertegemeinschaft“ ist genauso als Versuch zu werten, von der Defensive in die Offensive zu kommen (Dämme bauen! Barrieren errichten!), wie das linke Konzept des Multikulturalismus, das da sagt: Pluralismus ist nicht nur anstrengend, Pluralismus ist sexy.

Gescheitert sind beide. Nicht nur weil es kein Zurück geben kann und weil zweimal Minus im wirklichen Leben nicht Plus ergibt. Sie scheinen vielmehr schlichtweg blind für das zu sein, was gewissermaßen auf der Straße liegt: Wir leben längst in einer Wertegemeinschaft, und diese Wertegemeinschaft heißt Demokratie.

Hier liegt die große Leerstelle im bundesdeutschen Selbstbild. In den Selbstverständigungsdebatten spielt das Demokratische eine lediglich ornamentale Rolle. Die Formel von der „demokratischen Gesellschaft“ wird nur in den Mund genommen, wenn es um eine Abgrenzung von extremen Strömungen geht. Dann ist von der „wehrhaften Demokratie“ und von der „Gemeinschaft der Demokraten“ die Rede, formelhaft, wiederum bloß defensiv – wenn nicht gar floskelhaft.

Es ist, als schaute die gesamte Gesellschaft – oder zumindest jene, die der Artikulation fähig und mächtig sind – auf die falsche Landkarte. Oder, anders gewendet, als fehlten ihr die Mittel, wahrnehmen zu können, dass Demokratie mehr ist als eine Regierungsform, die darüber hinaus die optimalen Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung ökonomischer Marktkräfte liefert. Die gesellschaftliche Entwicklung bleibt unverstanden.

Es ist ja so, dass sich die Gesellschaft in den letzten dreißig Jahren stark demokratisiert hat. Ihr einstmals hierarchischer Modus, wonach Einzelnen oder einzelnen Gruppen quasi naturhaft Privilegien zustanden, hat jede Legitimation verloren. Was noch vor einer Generation fraglos akzeptiert war, kann heute nicht mehr funktionieren: dass dem Vater als Familienoberhaupt besondere Rechte gegenüber Frau und Kindern zukommen, den Eltern generell gegenüber ihrem Nachwuchs, den Lehrern gegenüber ihren Schülern, dem Meister gegenüber Gesellen und Lehrlingen, dem Chef gegenüber seinen Untergebenen. Es spricht für sich, dass das Wort „Untergebener“ inzwischen so gut wie ausgestorben ist; immerhin scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass kein Mitarbeiter mehr in der Rolle des Knechts angesprochen werden möchte, auch dann nicht, wenn er es de facto ist.

Dass die hierarchische Idee nicht mehr funktioniert, liegt nicht an den früheren Autoritätsinstanzen und ihrem angeblichen Versagen. Es liegt daran, dass niemand mehr akzeptieren kann, geringere Rechte zu genießen als andere. Diese Entwicklung stellt einen enormen moralischen Fortschritt dar. Es ist das notwendige Fundament einer „gelebten Demokratie“, es ist das, wovon eine Demokratie überhaupt lebt – wenn sie sich selbst ernst nehmen will.

Jeder Einzelne, jede Gruppe – und eben auch all jene Bürger und Bürgerinnen, die früher quasi selbstverständlich benachteiligt waren – nimmt nunmehr für sich in Anspruch, ein gleichwertiger Mitspieler in der demokratischen Gemeinschaft zu sein. Die Frauen, die Schwulen und Lesben, die Alten, die Kranken, die Behinderten, natürlich auch die Kinder und Jugendlichen, und – chronologisch gesehen – zuletzt auch die Immigranten. An sie die pauschale Forderung nach „Integration“ zu richten, heißt (vom paternalistischen Gestus einmal abgesehen), ihr Anliegen zu verkennen (es ist ja gewissermaßen der zweite Schritt vor dem ersten), und ist genauso irreführend wie die seit Jahren erhobene Forderung, Eltern sollten ihre Kinder doch endlich mehr erziehen, und dann wäre alles in Butter und die so genannte Erziehungskatastrophe (Susanne Gaschke) hätte sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Der Punkt ist, dass die Gesellschaft den gewachsenen Anspruch ihrer Mitglieder auf demokratische Teilhabe, auf Partizipationsmöglichkeiten und Chancengleichheit bislang nicht beantwortet hat. Sie nimmt ihn nicht einmal zur Kenntnis. Sie macht keinerlei Anstalten, ihre Spielregeln nach der Maßgabe aller zu bestimmen, unter Einschluss und Berücksichtigung aller Interessen. Ihre Botschaft heißt: Die Spielregeln stehen fest, mach mit oder sieh, wo du bleibst. Die längst delegitimierte Hierarchie ist noch immer in Kraft, und sie wird von der Gesellschaft – beziehungsweise ihren nach wie vor traditionellen Repräsentanten – verteidigt, als könne das Misstrauen gegen jene, die nicht der neuen Mitte entstammen, gar nicht groß genug sein.

Nach wie vor leistet sich die bundesdeutsche Gesellschaft ein hoch selektives dreigliedriges Schulsystem, das nur die Eliten fest im Blick hat und trotzdem – oder gerade deswegen – kaum außerordentliche Leistungen hervorbringt. Die soziale Herkunft ist sowohl in der Schule als auch im Beruf der entscheidende Faktor. Erst vergangene Woche hat die Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Republik zur „Klassengesellschaft“ gewandelt hat und die Vorstellung, dass jeder, wenn er nur wolle, nach oben kommen könne, eine „Selbsttäuschung“ ist.

Laut Pisa-Studie ist in keinem der 32 untersuchten Länder der Abstand zwischen der Leistung von Schülern aus privilegierten Familien und solchen aus unteren sozialen Schichten so groß wie in Deutschland. Die Regelungsmechanismen der Gesellschaft sind immer noch darauf ausgerichtet, jene zu bevorzugen, die es eigentlich gar nicht nötig hätten. Diejenigen aber, die man fördern müsste, um von ihnen fordern zu können, sind außerhalb sozialarbeiterischer Maßnahmen keine Größe.

Dem gehobenen Bürgertum Angehörende machen, trotz formal gleicher Qualifikation, doppelt so oft Karriere wie diejenigen aus einfachen Verhältnissen. Neun von zehn Chefs stammen aus den oberen Schichten. Wer kein Abitur hat, hat in der Konkurrenz um eine Lehrstelle von vornherein schlechte Karten. Dass die Klassenstärken in Haupt- und Realschulen selbstverständlich deutlich größer sind als in Gymnasien, wird nicht als Skandal empfunden. Familien, die es sich nicht leisten können, auf ein Gehalt zu verzichten, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, für ihre Kinder zu wenig Zeit zu haben und folglich mitverantwortlich zu sein für jene „Verrohung“ der Gesellschaft, die nun, nach Erfurt, wieder so wortreich beklagt wird.

Die Angst vor der Selbstauflösung der Gesellschaft, ihrer Traditionen, Bindungen und Übereinkünfte ist ein Abwehrmechanismus. Wenn etwas auseinander driftet, dann die Wirklichkeit der Gesellschaft mit ihren überkommenen Strukturen und die persönliche Wirklichkeit vieler ihrer Mitglieder – die schließlich längst bereitstehen, sich für ein „Projekt Demokratie“ begeistern zu lassen. An die Adresse der Sozialdemokratie hieße das: Ist für sie das Credo Willy Brandts („Mehr Demokratie wagen“) verzichtbar?

Das Menetekel von Erfurt besteht nicht in der Erkenntnis, dass wir in einer Gesellschaft leben, die von innen heraus, von ihren eigenen Mitgliedern, gefährdet ist. Viel gefährlicher ist es, nicht alle mitspielen zu lassen.

VERENA KERN, 37, ist taz.mag-Redakteurin.

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