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Zerfetze mein Ego

Nichts tun können, manchmal Amoklauf – steht es wirklich so schlimm? Beim Theatertreffen in Berlin hat sich die freie Szene etabliert und das Schauspielertheater zu neuer Verbindlichkeit gefunden

von EVA BEHRENDT

Im Haus des reichen Admetos lauert der Tod. Nicht, dass man es sofort merken würde. Die Wohnlandschaft, kostspielig zu klaustrophobischer Gediegenheit hochgerüstet, liegt noch im Dunkeln, und Jossi Wieler, der Regisseur des antiken Dramas „Alkestis“ (Münchner Kammerspiele), verhitchcockt dieses Morgengrauen. Ein paar Gestalten gleiten durch den Raum. Von fern dezente Krähenrufe, Streicherschwirren. Jetzt Luft anhalten. Eindringliche? Verfolgte? Verbrecher? Nein, nur die Großfamilie, die langsam zum Frühstück tröpfelt. Denn Alkestis, Admetos’ Frau, hat beschlossen, sich für ihren Mann zu opfern.

Stolz und erstaunlich kühl verabschiedet sie sich, legt sich auf die Lederbank und stirbt. Von nun an ist alles Groteske, subtil gemein und niederträchtig. Alkestis lässt einen Clan zurück, in dem nun jeder sich und den anderen als Schwein erkennt. Der Witwer winselt. Dann beschuldigt er seine Eltern, sich nicht für ihn, den eigenen Sohn, geopfert zu haben, obgleich sie ohnehin am Ende ihres Lebens stünden. Der Alte tobt zurück: Wenn ihn der Tod der Gattin so sehr schmerze, weshalb sei er nicht einfach selbst gestorben? Als Geste des Ausgleichs reißt der Großpapa seiner Frau den Perlenschmuck vom Hals: Grabbeigabe! Worauf diese vor Entsetzen sprachlos nach Luft schnappt und sich gerade noch die Sonnenbrille vor die tränennassen Augen schieben kann.

Familien- stehen gegen Liebesbande. Das ist bei Euripides der unlösbare Konflikt, den er durch den taschenspielertrickhaft eingesetzten Halbgott Herakles – hier ein sympathisch enthemmter Macho – später zum komischen Happy End führt. Sein Transfer in die Gegenwart funktioniert so verblüffend gut, weil Jossi Wieler alles heute Fremde raffiniert in Spannung setzt und das Vertraute genießerisch enthüllt: die grandiose Egozentrik aller Beteiligten. Restlos begeistert kommt man aus „Alkestis“ und erschrickt: Das war doch reinstes Schauspielertheater – Michael Wittenborn, Hildegard Schmahl, Nina Kunzendorf –, Teufel auch! Wozu hat man das „Postdramatische Theater“ gelesen? Wozu jahrelang auf die Experimentierbühnen der freien Szene geschworen? Damit man sich als Apologetin des konservativen Theaters wiederfindet?

So schlicht geht es zum Glück dann doch nicht. Zum einen veranstaltet der Schweizer Regisseur keinen psychologischen Realismus, sondern spielt gerade mit der (bei Euripides schon aufweichenden) Abwesenheit von Psychologie im antiken Drama. Die Holzschnitthaftigkeit, die Reduktion der Figuren auf ihre Familienrolle und Funktion als Argumentationsträger erscheint hier als gebrochene Individualität, als gesellschaftlich und zeitgeistbedingte Oberflächlichkeit von Leuten, die sich so verhalten, als seien sie sich selbst am nächsten – tatsächlich aber nur, weil sie sich vollständig von sich selbst entfernt haben.

Zum anderen sind wir endlich beim Thema: Das 39. Theatertreffen, die Leistungsschau der deutschsprachigen Bühnen, ging am Wochenende in Berlin zu Ende, und es hat sich trotz einer Neubesetzung der Kritikerjury tatsächlich auch diesmal keineswegs vom Schauspielertheater verabschiedet, obwohl es einigen theoretisch, technisch und zeitgeistig aufgerüsteten Inszenierungen freundlich die Hand reichte. Dass der nicht geladene Claus Peymann ein Gegentheatertreffen veranstaltete, dass der verschmähte Peter Zadek die Juryauswahl als „albern und opportunistisch“ bezeichnete, und dass der Focus aufgrund der Nicht-Einladung von Luc Bondy „die Baumbauer-Connection“ als dubiosen Verschwörungszusammenhang geißelte – solche Reflexe stimmten eher heiter.

Allerdings spiegelte die Auswahl der Inszenierungen die gewachsene Durchlässigkeit zwischen freier und etablierter Szene. Weder huldigte sie schamloser Jugendlichkeit – und vermied damit auch eine allzu heftige Anbiederung an die alten Bekannten Castorf und Marthaler –, noch konfrontierte sie das Publikum mit restlos Unbekanntem. Dass Meg Stuart, René Pollesch und Stefan Pucher erstmals auf dem Theatertreffen zu sehen waren, ist weniger der rasenden Kühnheit der Jury zu verdanken als jenen (darunter die „Baumbauer-Connection“), die diese einst als Geheimtipp gehandelten Freie-Szene-Größen zuletzt an die großen Häuser geholt haben.

Über diese Transparenz müssten sich vor allem jüngere Theatermacher freuen. Stattdessen traf sich der Nachwuchs während der Schlussdiskussion, in der sich die Jury dem Publikum stellt, im Ärger über die Klassikerbearbeitungen des diesjährigen 3sat-Preisträgers Stefan Pucher („Drei Schwestern“) und von Nicolas Stemann („Hamlet“) mit den Konservativen: Modisch aufgebrezelt beschnitten sie Dramen und Schauspieler aufs Brutalste in ihrer Komplexität und Menschlichkeit.

Ein Missverständnis. Denn die Verrat-am-Text-Frage ist so alt wie das Regietheater, bloß viel öder, und ein geglückter Verrat an den Schauspielern war in keiner der Inszenierungen zu sehen: Starke Schauspieler kann kein Video übertrumpfen, eher drängen sie die Technik an den dekorativen Rand. Außerdem fungieren Screens, Mikrofone und Tonspuren ohnehin nur noch selten als Störfeuer oder widerständige Konzepte, sondern meist als atmosphärische Verstärker. Eine Provokation ist es dann vielmehr, wenn ein junger Regisseur wie Sebastian Nübling mit seinem Basler Ibsen („John Gabriel Borkmann“) plötzlich alles weglässt und sechs Schauspieler vor riesigen Faltenwürfen inszeniert.

Was dabei eigentlich vorwurfsvoll mitschwang – das Fehlen von Utopie und Vorbildern, aber auch von ungebrochener Schönheit, Pathos, Festlichkeit –, spielte nämlich in jeder Inszenierung durchaus eine Rolle, wenn auch in Abwesenheit, als komische Sehnsucht, tragische Leerstelle. Will man tatsächlich ein verbindendes Thema des Theatertreffens behaupten, dann liegt der Hund hier begraben: in einem weiteren Kapitel der Krise des normal narzisstischen Individuums – egal, ob man nun im materiellen Überfluss oder eher in bohemistischer bis kleinbürgerlicher Beschränktheit lebt.

Dabei sind solche höhepunktlosen Stimmungsbilder des Hässlichen und Verwahrlosenden offenbar leichter zu verkraften, wenn sie, wie bei Christoph Marthaler und Anna Viebrock („Die schöne Müllerin“; Schauspiel Zürich), ihrerseits durch die Schönheit der Musik gebrochen werden, auf Text weitgehend verzichten und sich das Publikum bereits mit ihnen vertraut gemacht hat. Die Aufführungen des Schubert-Liebeskummerabends in der Arena wurden jedenfalls besucht und bejubelt wie Popkonzerte – obwohl Marthaler seinem Passepartout aus Schweizer-Slapsticks im absurd verlangsamten Kleinbürgertran nichts hinzufügte. Umgekehrt wird das depressive bis nihilistische Beziehungsgefasel der einsamen Menschen des Norwegers Jon Fosse verdaulich, wenn Luk Perceval in „Traum im Herbst“ (Münchner Kammerspiele) seine nadelfein agierenden Schauspieler in klarer, grauer Geometrie feiert, jede Nuance ihrer Stimme, jedes gekünstelte Lachen und verlegene Hüsteln durch Mikrofone ins Plastische verschärft – und dabei eine unverkennbar ironische Distanz gegenüber dem Text wahrt: Ein Stündchen nur, dann ist der Weltschmerz abgespielt.

Verluste zu beklagen haben auch die Inszenierungen von Frank Castorf und Stefan Pucher. Während Puchers Zürcher „Drei Schwestern“ einleuchtend auf das vertraute Lebensgefühl der Dauernd-über-sich-selbst-Nachdenker bis zur totalen Handlungsunfähigkeit in Sachen Arbeit und Liebe eindampft, verhaken und zerreden sich Castorfs Dostojewski-Figuren ausschweifend in billigen Intrigen, die weder Moral noch Perspektive, aber immerhin Beschäftigung bieten. Der Forsetzungsschinken „Erniedrigte und Beleidigte“ (Volksbühne Berlin) beherrscht die Parallelführung von Video- und Live-Ästhetik so meisterlich, dass sie schon wieder in einer beinahe homogenen Episierung zusammenfällt.

Am schwierigsten arrangierte es sich mit Verlust und Hässlichkeit bei Meg Stuarts „Alibi“ (Zürcher Schauspielhaus). Im Theater stöhnten schon die Sitznachbarn; erstaunlich sinnloserweise verließen aber erst zehn Minuten vor Schluss rund vierzig Genervte den Saal. Vielleicht, weil man ungern alleine protestiert – vielleicht aber auch, weil man spürte, dass hier schon Ungeheures vor sich ging. Denn auch wenn „Alibi“ weder eine Geschichte erzählt noch eine These vertritt, zeigt Stuart physische Angst und Autoaggression, Vereinzelung und Gewalt in fast unerträglicher Intensität, die durch kein versöhnendes Entertainment gemildert wird.

„Bewusstsein macht Feiglinge aus uns.“ Der Juror Gerhard Preußer bezog diesen Satz auf Nicolas Stemanns rebellischen Grübler „Hamlet“ (Schauspiel Hannover), der merkt, dass ihm die Scheißliberalen Claudius und Gertrud leider keine Angriffsfläche mehr bieten, der gegen Gummiwände rast und dabei noch ein paar Unschuldige plattmacht. Er passt aber genauso zu Puchers Tschechow wie zu den Ironikern Castorf, Perceval und Wieler. Und er begründet die getrashte Wut, die so gezielt die Sprecher und Sprecherinnen der hyperreflexiven Texte von René Pollesch ergreift. Nichts tun können und manchmal Amoklauf – das sind so die Albträume, Visionen, Schuldgefühle, hin und wieder auch reale Zustände und Einbrüche einer rauf und runter verbürgerlichten Gesellschaft, die sich selbst als dekadent und depressiv empfindet. In der Analyse, woran’s denn liegt, verfahren die Inszenierungen diskret; die Sache ist nun mal komplex. Castorfs nebenher eingespielte Werbespots oder Nüblings Schilderung der emotionalen Beziehungen als Tauschgeschäfte lehnen sich schon ziemlich weit aus dem Fenster. Doch allein Polleschs Theater verbindet so intelligent wie unmissverständlich das unbehagliche Bewusstsein mit Kapitalismuskritik: Es beschreibt abbildend die Verkaufs- und Leistungsstrukturen, die noch den letzten Winkel des Denkens und Fühlens besetzen, aus denen es kein Entrinnen gibt als den gellenden „Scheiße“-Schrei.

Steht es wirklich so schlimm? Dafür, dass man zehn große Theaterabende gesehen hat, ist der Preis verkraftbar: Das Theatertreffen, falls es jemals Feindbild war, taugt als solches nicht mehr.

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