Tony Blair greift nach den Sternen

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Genowefa Grabowska hatte sich am Mittwoch schon früh auf den Weg von Warschau nach Brüssel gemacht. Die Juraprofessorin vertritt den polnischen Senat im EU-Konvent, der eine Reform der europäischen Verträge erarbeiten soll. Am Morgen hatten die Europaparlamentarierinnen im Konvent ihre weiblichen Mitstreiter aus den Regierungen und nationalen Parlamenten zusammengerufen. Schließlich finden sich parteipolitische und nationale Familien am Rand des Plenums pausenlos zusammen, um ihre Positionen zu bündeln. Warum sollten nicht auch die Frauen das Gewicht ihrer gemeinsamen Interessen in die Waagschale werfen. Doch angesichts der Medienschlacht, die sich die drei zentralen EU-Institutionen Rat, Parlament und Kommission derzeit liefern, wirkt die Suche nach Koalitionen im Konvent wie ein Sandkastenspiel.

Prodi stellte den mit Spannung erwarteten und in der letzten Minute noch geänderten Reformvorschlag der Kommission für die künftige Aufgabenverteilung in der Union vor. Konventsmitglieder waren aber nicht geladen. Erschienen waren stattdessen Europaparlamentarier aller Fraktionen, von denen die meisten keine Delegierten im EU-Konvent sind.

Die Anwesenden belohnten Prodi mit warmem Beifall und Dankesworten. Sie treiben ihr politisches Geschäft noch immer im Schatten eines übermächtigen Rates und sinkenden Wählerinteresses. Da zählt die Tatsache doppelt, dass wenigstens der Präsident der EU-Kommission dem Europaparlament die Ehre erwies, indem er seine Vorschläge dort zuerst präsentierte.

Aber auch inhaltlich interpretierten die Parlamentarier das Kommissionspapier ganz richtig als Angebot einer politischen Allianz: Ein übermächtiger Rat verdammt Parlament und Kommission gleichermaßen zur Bedeutungslosigkeit. Deshalb sind beide natürliche Bündnisgenossen, wenn es darum geht, die Entscheidungsbefugnisse der Kommission und die Mitsprachemöglichkeiten des Parlaments zu erweitern.

Unterdessen bereitet der Rat seinen nächsten großen Coup vor. Dass sich die EU noch vor der Erweiterung auf reibungslosere Handlungsabläufe verständigen muss, wissen auch die Staats- und Regierungschefs. Denn in einem Gremium aus 25 Mitgliedern wären nach jetzigem Stand auch diejenigen Entscheidungen blockiert, die die meisten Regierungen gern nach Brüssel abgeben: Fragen des Binnenmarktes, der grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung oder des gewichtigeren außenpolitischen Auftretens.

Die Sorge, die neu geschmiedete Allianz zwischen Parlament und Kommission könnte im Konvent Ideen durchsetzen, die die Macht des Rates der Staats- und Regierungschefs beschneiden, hat Bewegung in den Rat gebracht. Während beim Gipfel in Nizza die zaghaftesten Reformbemühungen scheiterten, kündigen sich für den Gipfel Mitte Juni in Sevilla revolutionär anmutende Vorschläge an.

Bundeskanzler Schröder und Premierminister Blair hatten Ende Februar in einem gemeinsamen Papier angeregt, die Tagesordnungen der Gipfel zu entschlacken und sachliche Detailfragen wieder mehr den Fachministern zu überlassen. Sollten die sich nicht einigen können, müssten ihnen eben Fristen gesetzt werden.

Der Generalsekretär des Rates, Javier Solana, wurde beauftragt, einen Vorschlag zu erarbeiten, wie die Arbeit der Fachministerräte neu koordiniert werden kann. Der Allgemeine Rat der Außenminister, der diese Aufgabe derzeit übernimmt und deshalb zu wenig seinen eigentlichen Geschäften nachgehen kann, soll so entlastet werden.

Organisatorische Verbesserungen dieser Art könnte der Rat schon in Sevilla beschließen. Die britische Lieblingsidee wäre dagegen ohne Änderung der europäischen Verträge nicht möglich: Schon im Februar regte der britische Außenminister Jack Straw an, die Ratspräsidentschaft in Zukunft nicht mehr alle sechs Monate auszuwechseln. Mittlerweile haben auch Europaminister Peter Hain und Premier Tony Blair sich dafür stark gemacht, dass die Regierungen einen EU-Chef für mehrere Jahre wählen, der – natürlich – beim Rat angesiedelt wird und die Position des Rates stärken soll.

In seinem Redebeitrag vor dem Konvent gestern Nachmittag erwähnte Peter Hain, der die britische Regierung vertritt, diese brisante Idee allerdings mit keinem Wort. Während die Regierungschefs bereits halblaut darüber nachdenken, ob eher der Spanier Aznar oder Blair selbst für den Posten in Frage kommt, erfinden die Konventsmitglieder unverdrossen die EU neu, verteilen sich auf Arbeitsgruppen, in denen über „ergänzende Kompetenzen“ in der Kultur- und Bildungspolitik oder über „Möglichkeiten der Integration der EU-Grundrechtscharta in die Verträge“ nachgedacht wird.

Nun werde sich zeigen, was die neue Interessengemeinschaft zwischen Europaparlament und Kommission wert sei, betonten gestern grüne Konventsbeobachter, die kritisierten, dass Arbeitsgruppen zu „bizarren und randseitigen Themen“ vom Konventspräsidium vorgeschlagen worden seien. Stattdessen müssten Teams zusammengestellt werden, die Formulierungsvorschläge zur gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik, aber auch zur Rechts- und Innenpolitik erarbeiten könnten. Noch vor dem Frühherbst müsse ein erster Entwurf für den neuen Gesamttext eines Verfassungsvertrages vorliegen.

Genowefa Grabowska und die Delegierten der Kandidatenländer werden sich die Frage stellen, was ihre mühsam erkämpfte Gleichberechtigung im Konvent eigentlich wert ist. Und sie müssen sich fragen, warum sie im Konvent mit Vertretern von Regierungen zusammenarbeiten, die zugleich versuchen, im Rat vollendete Tatsachen zu schaffen. Setzt sich Tony Blair durch, ist die EU-Verdrossenheit der neuen Mitglieder vorprogrammiert. Denn der polnische Regierungschef ist nicht als möglicher Ratspräsident im Gespräch.