: „Noch mehr Staat geht nicht“
Interview ULRIKE HERMANN und HANNES KOCH
taz: Herr Zimmermann, was halten Sie als Wirtschaftsforscher von den Wahlprogrammen der Parteien?
Klaus Zimmermann: Das meiste sind kühne Versprechungen.
Ein Beispiel?
Die Vorschläge von FDP und CDU würden Milliarden verschlingen (siehe Kasten). Dieser Spielraum ist nicht da. Die Konjunktur lahmt, die letzte Steuerreform kostet immer noch Geld, und die EU erwartet, dass wir unseren Haushalt konsolidieren.
Aber die FDP behauptet, die geplanten Steuergeschenke von etwa 77 Milliarden Euro würden das Wachstum so ankurbeln, dass sich der Steuernachlass von selbst finanziert.
Mit dieser Einschätzung stehen die Liberalen allein da. Das würden noch nicht einmal eingefleischte Anhänger der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik so sehen. Selbst der Sachverständigenrat nicht.
Sind Steuersenkungen also falsch?
Überhaupt nicht. Aber damit die Gegenfinanzierung klappt, müsste gleichzeitig die Mehrwertsteuer steigen.
Das will aber keine Partei.
Leider. Dabei ist es eine Alltagserfahrung: Wer erlebt, dass sein Einkommen stark besteuert wird, der versucht davor zu fliehen. Viele Leute arbeiten schwarz, andere beschäftigen einen Steuerberater. Es ist ja nicht so, dass die Großverdiener heute besonders viel Steuern zahlen würden – im Gegenteil, sie entrichten meist am wenigsten Steuern, trotz der Progression. Insofern bringen hohe Einkommenssteuern gar nicht so viel. Aber konsumieren will und muss jeder, das lässt sich nicht so leicht umgehen. Allerdings muss man für Gerechtigkeit sorgen und einkommensschwache Familien unterstützen.
Wir leben die ganze Zeit im falschen Steuersystem, ohne es zu merken?
Für eine vollständige Umstellung bin ich auch nicht. Aber wenn man die normale Mehrwertsteuer von 16 auf 21 Prozent erhöhen würde, ließe sich die durchschnittliche Belastung bei der Einkommenssteuer um 17 Prozent senken. Dann gäbe es auch stärkere Anreize, sich um seine Altersversorgung zu kümmern, zu sparen und sich besser auszubilden – denn das Konsumieren würde ja bestraft. Aber in diese Richtung denkt keine Partei.
CDU und FDP wollen lieber die Staatsquote senken, den Anteil der Staatsausgaben und der Sozialversicherungen am Bruttoinlandsprodukt.
Noch mehr Staat geht nicht – da sind sich alle einig. Aber die Staatsquote kurzfristig unter 40 Prozent zu drücken, das ist völlig illusorisch. Vielleicht funktioniert das in zehn Jahren, aber niemals in einer Regierungsperiode. Wir brauchen Schulen, Straßen und auch Bürokratie – im schlanken Sinne. Das sind langfristige Wachstumsfaktoren, wie die Pisa-Studie ja gerade gezeigt hat. Was oft übersehen wird: Wir sind inzwischen europaweit bei vielen Messgrößen hinten – nicht nur beim Wachstum, sondern auch bei den öffentlichen Investitionen. Das ist eine echte Gefahr.
Nun wollen die Parteien ja nicht nur die Steuern senken, sondern auch zusätzlich Geld investieren. Zum Beispiel in einen Niedriglohnsektor.
Dagegen bin ich nicht. Wir brauchen einen Niedriglohnsektor. Denn der Trend ist eindeutig: Die Zahl der Menschen, die ungelernt und arbeitslos sind, nimmt zu. In Ostdeutschland ist jeder zweite Ungelernte arbeitslos, im Westen jeder fünfte. Der Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit hat damit unmittelbar zu tun. Wenn Sie die Ungelernten aus der Statistik herausrechnen, dann liegt die Arbeitslosenquote im Westen bei ungefähr vier Prozent – das nennen wir sonst Vollbeschäftigung.
Aber wäre es nicht besser, die Ungelernten zu qualifizieren, statt sie in Billigjobs abzuschieben?
Ich bin sehr für Weiterbildung. Aber es gibt leider viele Menschen, denen man damit nicht helfen kann. Ihre Möglichkeiten sind zu begrenzt.
Aber man könnte sie doch trotzdem anständig entlohnen.
Ich würde gern alle gut bezahlen. Aber die Produktivität dieser Menschen ist nicht hoch genug. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Gemeinschaft keine soziale Verantwortung für sie hätte. Ganz im Gegenteil. Deswegen ist ja ein geförderter Niedriglohnsektor so nötig.
Also sind Sie einverstanden mit den Wahlprogrammen der Parteien?
Nein. Das Problem bei allen diesen Vorschlägen ist, dass sie sehr viel kosten, aber kaum zusätzliche Beschäftigung erzeugen. Das „Stoiber-Modell“ würde zum Beispiel nur 30.000 Arbeitsplätze bringen – und nicht 900.000, wie die Union behauptet. Ein zusätzlicher Arbeitsplatz würde ungefähr 50.000 Euro kosten. Das ist zu teuer.
Klingt wie ein Akademikergehalt für jeden Arbeitslosen.
Der Fehler ist gerade, dass man nicht den einzelnen Arbeitslosen subventioniert mit einem kleinen Förderbetrag, sondern dass man das Geld über alle Niedriglohnjobs verteilt. Damit fördert man vor allem die, die schon Arbeit haben. Das ist natürlich ineffezient.
Und wie ginge es besser?
Was alle Parteien viel zu wenig im Auge haben: Man müsste sich auf die Risikogruppen konzentrieren, die leicht in die Dauerarbeitslosigkeit abrutschen. Das sind Leute über 50 und Leute ohne Ausbildung. Sie müsste man bereits bei der Kündigung mit Wiedereingliederungszuschüssen wieder in Arbeit bringen, ganz aktiv.
Das erscheint so simpel, dass es jede Partei sofort übernehmen könnte.
Müssen sie gar nicht. Das steht schon alles im Job-Aqtiv-Gesetz, das die rot-grüne Regierung gerade erst eingeführt hat. Aber es sieht zunächst nicht so beeindruckend aus, nur ein paar zehntausend anzusprechen – obwohl es über die Jahre gerechnet dazu führen würde, dass die Arbeitslosigkeit sinkt. Aber die Parteien wollen lieber eine flächendeckende Förderung, und die sofort. Vor der Wahl wollen sie möglichst viele Wähler direkt unterstützen.
Spricht man auch Wähler an, wenn man den Kündigungsschutz für Ältere lockern will wie die CDU?
Den Vorschlag finde ich sogar gut! Wenn es zu einem Kündigungsprozess kommt, steht am Ende meistens eine Abfindung. Warum brauchen wir also so lange Verfahren? Insofern finde ich die CDU-Idee richtig, den Arbeitnehmer wählen zu lassen zwischen einem rigiden Kündigungsschutz und einer Abfindungsregelung. Dann würde man auch sehen, wie groß dieses Problem des Kündigungsschutzes in Wahrheit ist, das die Unternehmer immer anführen. Einen anderen Weg geht man jetzt in Nordrhein-Westfalen. Dort haben sich Leiharbeitsfirmen mit Unterstützung der Landesregierung bereit erklärt, Arbeitslose über 50 zu vermitteln. So haben die Unternehmen die Chance, die Arbeitslosen erst einmal kennen zu lernen.
Gibt es Ergebnisse bei diesem Experiment?
Nein. Das Modell läuft erst seit einem halben Jahr. Aber es werden alle Arbeitslosen über 50 angeschrieben. So wird man erstmals sehen, wie viele bereit sind, eine Arbeit aufzunehmen.
Ein Experiment, das CDU und FDP auch gern beginnen würden, ist die Flexibilisierung der Tarifverträge.
Ich glaube nicht, dass das mehr Beschäftigung bringt. Sehen Sie, eine große „Flexibilisierung“ – mit Anführungsstrichen – haben wir schon in Ostdeutschland erlebt. Aber Vollbeschäftigung ist nicht entstanden, obwohl dort kaum ein Tarifvertrag eine breite Wirkung hat. Das ist eine ernüchternde Erfahrung. Ich plädiere dafür, den Flächentarifvertrag zu erhalten. So können Lohnverhandlungen organisiert geführt und manchmal darf eben auch gestreikt werden. Das ist ein effizientes Verfahren mit vertretbaren Kosten. Für Unternehmen in ökonomischen Schwierigkeiten sollte es zeitlich begrenzt Öffnungsklauseln geben.
Letzte Frage: Was wäre denn Ihre Lieblingsreform?
Das Job-Aqtiv-Gesetz.
Aber das gibt es doch schon.
Eben. Wäre ich Arbeitsminister, würde ich als Allererstes dieses Gesetz konsequent umsetzen. Nach jeder Kündigung muss bei Risikogruppen sofort mit einer Wiedereingliederung begonnen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen