: Statt Stammtisch
Wie riskant sind Lockerungen für psychisch kranke Straftäter? Experten der Forensischen Psychiatrie informieren Politik und Medien
von Heike Dierbach
Für psychisch kranke Straftäter eine genaue Prognose zu erstellen, ist schwierig. Unter anderem aus einem eigentlich erfreulichen Grund: Weil statistisch die Grundrate jener, die rückfällig werden, so gering ist und die Gutachter so quasi die Stecknadel im Heuhaufen suchen. Um diese und andere verblüffende Hintergründe zu vermitteln, hatten die forensisch-psychiatrischen Kliniken Norddeutschlands gestern unter dem Titel „Forensik: Mit Sicherheit genug getan?“ JournalistInnen und PolitikerInnen ins Hamburger Klinikum Nord geladen.
Eine Prognose beruht nicht auf irgendeinem vagen „Gefühl“ des behandelnden Psychiaters, stellte Nahlah Saimeh, Chefärztin im Zentralkrankenhaus Bremen-Ost, klar. Es gibt definierte Checklisten, welche Faktoren das Risiko eines Rückfalls erhöhen, wie zum Beispiel das jugendliche Alter eines Patienten – und auch, welche es vermindern, wie ein intaktes soziales Umfeld. Ähnliches gilt für Haft-Lockerungen so wie Ausgang. Diese „sind nicht Ausdruck einer überzogenen therapeutischen Haltung“, betonte der Leiter der forensisch-psychiatrischen Klinik im Klinikum Nord, Guntram Knecht. Vielmehr haben Patienten mit günstiger Prognose einen Anspruch darauf und können Lockerungen sogar einklagen.
Knecht verwies darauf, dass im Klinikum Nord die Missbräuche von Lockerungen – und dazu zählt schon eine verspätete Rückkehr – in den letzten acht Jahren um 90 Prozent abgenommen haben. Übergriffe gegen Dritte während eines Ausgangs – wie im Klinikum Nord im vergangenen Jahr – sind gar so selten, dass es nicht einmal eine bundesweite Statistik darüber gibt. Nach einer Erhebung des Landes Brandenburg wurden dort von 100 Patienten, die im Jahr 1995 Ausgang bekamen, 1,5 dabei rückfällig – in 98,5 Prozent der Fälle war also die Prognose der ÄrztInnen richtig. Das Problem ist aber, so Knecht: „Die öffentliche Wahrnehmung hat gleichzeitig zugenommen.“
Eine Erklärung dafür hat Andreas Kernbichler, Ärztlicher Direktor in Heiligenhafen: „Spektakuläre Einzelfälle werden so nah an die Menschen herangebracht, dass sie große Angst erzeugen.“ Der verständliche Reflex darauf sei der Wunsch nach totaler Sicherheit. Dadurch aber, warnte Knecht, „laufen wir in die Falle, mit der Realität nicht mehr klarzukommen.“ Am Ende landeten deshalb fast alle Debatten bei einer Frage: Wie viel Risiko ist diese Gesellschaft bereit zu tragen? „Darüber brauchen wir einen Konsens“, forderte Knecht, „den gibt es aber zurzeit nicht.“
Eben darum hatten sich die Experten diesmal bewusst an PolitikerInnen und JournalistInnen gerichtet. Von den fünf Hamburger Rathausfraktionen waren allerdings nur Dorothee Freudenberg (GAL) und Wolfgang Barth-Völkels (Schill-Partei) zu der Veranstaltung gekommen. Die Presse war zahlreich vertreten – nur die Bild-Zeitung hatte niemanden geschickt.
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