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„Förderung statt Selektion“

Erziehungswissenschaftlerin Ursula Boos-Nünning hält die Berliner Erhebung für übertragbar auf andere Großstädte. Sie plädiert für eine Förderung sowohl in Deutsch als auch der Muttersprache

taz: Frau Boos-Nünning, die Deutschkenntnisse der künftigen Erstklässler in Berlin sind dramatisch schlecht. Sieht es in anderen deutschen Großstädten ähnlich aus?

Ursula Boos-Nünning: Das Problem gibt es in allen deutschen Großstädten, aber man muss zwischen Städten wie Berlin oder auch Köln und Duisburg einerseits, und Frankfurt oder Stuttgart andererseits unterscheiden.

Wo liegt der Unterschied?

In Berlin, Köln oder Duisburg sind nur wenige Migrantennationalitäten bestimmend, vor allem die türkische Community. Außerdem konzentrieren sich in diesen Städten, und das gilt auch für die anderen Städte des Ruhrgebiets, die Familien mit Migrationshintergrund in wenigen Stadtteilen, und es handelt sich vor allem um Arbeitsmigranten aus dem ländlichen Raum …

also die so genannten bildungsfernen Elternhäuser.

Genau. In Frankfurt aber ist zum Beispiel die Streuung unter den Migranten viel größer, da gehen auch die Kinder von Bankern zur Schule.

Ist also allein die Sozialstruktur der Migranten entscheidend? Gibt es keine Städte, die die Schwierigkeiten etwa türkischer Migrantenkinder besser angehen als andere?

Nein, im Grunde nicht. Es gibt zwar hier und da sinnvolle Ansätze, zum Beispiel in Köln und im Ruhrgebiet, aber im Grunde sind wir seit den 70er-Jahren nicht viel weitergekommen. Gerade jetzt ist zu beobachten, dass alte Rezepte wieder hervorgeholt werden.

Sie spielen auf die Vorschläge aus Hessen und Niedersachsen an. Was halten Sie von dem Vorstoß Hessens, Kinder nur einzuschulen, wenn sie zuvor einen Deutschtest bestehen?

Davon halte ich gar nichts. Sprachstandserhebungen machen sowieso nur unter drei Bedingungen Sinn. Die Tests müssen qualitativ gut sein, sie müssen bei zweisprachigen Kindern auch beide Sprachen berücksichtigen, und sie müssen auf Förderung statt auf Selektion ausgerichtet sein. Deshalb würde ich auch den Berliner Test kritisieren, denn der hat nur die Deutschkenntnisse der Kinder erhoben. Bei zweisprachigen Kindern entwickelt sich die Sprache aber anders als bei einsprachigen.

Und was halten Sie von einer „Ausländerquote“, die Niedersachsens Ministerpräsident Gabriel (SPD) einführen will?

Zum einen ist die fehlende deutsche Staatsangehörigkeit wirklich nicht das geeignete Kriterium, um die Deutschkenntnisse von Kindern zu beurteilen. Aber es ist natürlich richtig, dass – wenn viele Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse in eine Klasse gehen – alle Kinder dieser Klasse benachteiligt sind. Es ist nicht akzeptabel, dass die Schulen in Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Kindern – solchen mit Migrationshintergrund und deutschen –, die unzureichende Voraussetzungen mitbringen, genauso oder ähnlich ausgestattet sind wie Schulen in so genannten privilegierten Stadtteilen. Trotzdem ist eine Quote keine Lösung. Schon jetzt haben wir in Großstädten 30, 40, 50 Prozent Migrantenkinder, die in die Grundschule kommen. Wie wollen Sie da eine Quote von 25 Prozent erreichen? Das geht schon rein praktisch nicht.

Was muss getan werden?

Man muss die Klassen ganz anders ausstatten. Es gab mal die alte Forderung der GEW, Ausländerkinder doppelt zu zählen. Das ist natürlich nicht das richtige Kriterium, aber wenn man Kinder mit Sprach- und Sozialisationschwierigkeiten nimmt, dann macht das Sinn. Für diese Kinder müsste es doppelt so viele Lehrerstunden geben und damit sowohl eine innere als auch eine äußere Differenzierung in den Klassen. Zu der äußeren Differenzierung würde dann auch spezifische Förderung im Deutschen und in der Muttersprache gehören. Man muss endlich ganz anders denken.

INTERVIEW: SABINE AM ORDE

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