fernöstlicher diwan
: Decoderloser im Familienstress

Die Brut rebelliert

Nicht ganz leicht, das Geschehen dieser seltsamen Vormittags-WM live zu verfolgen. Wenn überhaupt, schaff’ ich es mal, ausschnittweise ein Mittagsspiel zu gucken. Denn so sieht mein Tagesablauf nun mal aus: Aufstehen ist morgens um sechs. Bis die Kinder aus dem Haus sind, ist es acht. Anschließend wird die Frühschicht weggedichtet. Halb eins geht’s in die Küche, Mittagessen vorbereiten. Um eins wird die Kleine aus dem Kindergarten abgeholt, halb zwei kommt die Große aus der Schule, spätestens um zwei muss das Essen auf den Tisch, andernfalls rebelliert die Brut. Bei etwas Glück, nämlich nicht zu umfangreichem Abwasch, kann ich dann in Halbzeit zwei ins Spielgeschehen einsteigen, es sei denn, die Kleine gibt keine Ruhe, oder es ist Dienstag, wenn die Große Viertel vor drei zum Flöten muss, oder Mittwoch, wenn’s um drei zum Kinderturnen geht.

DIE WM VON FRITZ TIETZ

Mein Team: Die Mädchenauswahl der 3c für das Fußballturnier aller 3. und 4. Grundschulklassen nächsten Montag in Hittfeld – weil meine Tochter im Tor steht.

Mein Spieler: Diego Placente – steht wie kein anderer für das Weibliche im Männerfußball, könnte eigentlich auch bei der Frauen-WM mitspielen.

Mein Weltmeister: Spanien – weil meine Frau findet, dass die endlich mal dran sind.

Wenigstens einem WM-Vorrundenspiel wollte ich denn doch mal über die gesamte Spielzeit beiwohnen, und obwohl die Umstände günstig waren, sollte es mir erneut nicht gelingen. Am letzten Freitag war’s, England spielte gegen Argentinien. Meine Frau übernahm die Kinderaufzucht. Ich aber plante zwei dienstliche Termine in Bremen so, dass dazwischen genügend Zeit blieb für das Spiel. So machte ich es mir gegen eins in einer Bremer Gaststätte gemütlich, deren Fernseher bereits für die Übertragung warm lief. Noch vor dem Anpfiff verzehrte ich zwei Tassen Kaffee. In der Pause orderte und aß ich dann eine sehr schmackhafte Tomatensuppe und danach noch ein Stück Gemüsetorte, zudem gönnte ich mir ein lecker Gläschen Riesling, um dann allerdings und kurz nach Wiederanpfiff einer solchen Mattigkeit anheim zu fallen, dass ich auf meinem Platz mählich wegsummte und fast die gesamte zweite Spielhälfte verschnorchelte.

So schaffe ich es nicht mal, das amputierte WM-Angebot wegzugucken, das ARD und ZDF uns decoderlosen Zuschauern derzeit liefern. Dabei ist es doch wahrlich kein besonders pralles Programm, das da aus der Fernostkurve sozusagen auf die heimischen Fernseher schwappt: Ein Livespiel bloß pro Tag, und von den restlichen Begegnungen kriegt man allenfalls ein paar armselige Standfotos zu sehen. Die Gründe dafür sind zwar kirchlänglich bekannt. Trotzdem würde ich das nur ungern als eine ausreichende WM-Versorgung bezeichnen.

Wieso sind eigentlich die öffentlich-rechtlichen Sender nicht längst auf die Idee gekommen, ihre Kamerateams samt Ü-Wagen in die nächstgelegene und decodergestützte Kneipe zu schicken, um von dort jeden Vormittag eine Art WM-Kneipen-Live-Reportage ins Erste oder Zweite abzusetzen? Die Kameras müssten bloß einigermaßen geschickt vor den Kneipenfernsehern postiert und in den entscheidenden Spielszenen flugs auf das „Premiere“-Bild geschwenkt werden. So kämen auch wir Decoderlosen (oder auf englisch: Decoderloser) brandaktuell und live an alle Bilder auch aus den verschlüsselten Spielen. Natürlich entspräche die Qualität der auf diese Weise erschlichenen Premiere-Bilder nicht ganz dem, was man sonst so von Fußballübertragungen gewohnt ist. Wer aber, wie ich, keine Zeit hat, den lieben halben Tag lang in bierfurzmuffigen Kneipen oder sonstwelchen dubiosen Premiere-Enklaven zu verbringen, wird das sicher gerne in Kauf nehmen.

Will man bei dieser WM mehr über den aktuellen Spieltag erfahren, als ARD und ZDF zeigen dürfen, muss man sich bekanntlich bis 21.15 Uhr gedulden. Erst dann kann man auf Sat.1 die Zusammenfassungen der tagesaktuellen Spiele sehen, vorausgesetzt allerdings, man verfügt über genügend Nervenstärke, um die auch in WM-Zeiten übliche „ran“-Schmeiße zu ertragen; von Paul Breitners hanebüchenem Expertentum ganz zu schweigen.

Ich liege um diese Zeit meist schon im Bett. FRITZ TIETZ