: Zahlen bitte!
von KIRSTEN KÜPPERS und WOLFGANG BORRS (Fotos)
Und wenn die Bahn jetzt zum Flugzeug wird, dann bringt das Beuchel auch nicht um. Wenn einer jeden Sommer an der Schwarzmeerküste Bulgariens gewesen ist als Koch im Speisewagen, wenn einer noch die Zeiten kennt ohne Mikrowelle, als man an Bord den Herd noch mit Kohlen heizen musste, als es statt Kühlschränken nur gefrorene Wasserstangen gab und vorne am Zug eine Dampflok – wenn einer also die ganze Entwicklung hin zur Beschleunigung erlebt hat, dann ist er Veränderungen gewohnt. Nein, wenn man 57 Jahre alt ist und der dienstälteste Mitropa-Koch Deutschlands, dann stürzt einen so ein Konzept, das sich die Herren in der Konzernzentrale ausgedacht haben, so schnell nicht in die Verzweiflung. „Man muss das erst mal positiv angehen, alles andere wird sich mit der Zeit regeln“, sagt Christoph Beuchel. Optimistisch klingt das nicht, so mit einem Schulterzucken hingeworfen.
In blauer Kellneruniform steht Beuchel im Bordrestaurant und fegt mit der Hand ein Tischtuch glatt. Seit der Erfindung der Mikrowelle sind die Zugköche mehr zu Kellnern geworden. Vor dem Zugfenster zieht der Sommer vorüber, tonlos gestellt von der Doppelverglasung. Es ist 10.50 Uhr. Der Eurocity 173 „Vindobona“ von Hamburg über Prag nach Wien hat vor einer halben Stunde den Berliner Ostbahnhof passiert. Beuchel streicht am Tischtuch herum und man fragt sich, ob er das schon mit Nostalgie im Kopf tut.
Tischtücher wird es jedenfalls bald keine mehr geben. Die Bahn hängt ihre Speisewagen ab und ersetzt sie durch Bistros mit Rauchverbot. Das Zugpersonal wird ähnlich wie Stewards und Stewardessen mit kleinen Trolleywagen ausgestattet, mit denen sie die Reisenden am Platz besuchen. „Künftig“, so hat es der Bahnvorstand formuliert, „künftig ist der ganze Zug ein Restaurant, wir kommen mit den Speisen zu den Fahrgästen.“
Der Plan soll klingen wie ein wunderbares Dienstleistungsversprechen. Aber eigentlich macht er Schluss mit der viel schöneren Tradition von einem Waggon voller Reisender, die an Tischen sitzen und nicht vor Sitzlehnen-Klappdeckeln; die Speisen essen und keine Snacks; die von Kellnern bedient werden, die nur Kellner sind und keine Fahrkartenkontrolleure. Es ist ein Plan, der Schluss macht mit der Arbeitswelt von Menschen wie Christoph Beuchel.
Menschen, die um 11 Uhr auf der Strecke zwischen Berlin und Dresden klappernd Mini-Spülmaschinen leer räumen, dabei alles im Blick haben. Die Büromänner am Tisch hinten links wollen zwei Kaffee, die Frau vorne am Stehtisch noch ein Bier, jawoll, ist schon das dritte an diesem Vormittag. Aber Beuchel sagt nichts, ist nicht sein Job. Macht lieber Witzchen mit sächsischem Akzent, fragt Großmütter, ob sie schon volljährig sind, das mögen die Frauen, und erklärt: „Freundlichkeit ist oberstes Prinzip, sagt man bei uns immer, haha.“
Die Bahn wird das neue Konzept am 1. August auf der Neubaustrecke zwischen Frankfurt und Köln starten. Mit dem Fahrplanwechsel am 15. Dezember sollen nach und nach alle ICE-Züge der dritten Generation umgebaut werden. Anschließend werden auch die übrigen Fernzüge mit Bistros und Trolleywagen bestückt. Bis Ende 2005 soll die Umstrukturierung dauern.
„Mir tut’s auch weh“, sagt Beuchel. Es ist 11.40 Uhr, der Zug fährt an einer Schafherde vorbei und die amerikanischen Touristen aus Ohio am mittleren Tisch blicken von ihrem Hacksteak mit Wirsinggemüse auf und sind begeistert von diesem „very relaxing“ Deutschland, wo es Restaurants auf Schienen gibt, wo die Menschen überhaupt noch Zug fahren. Beuchel guckt weg von den Amerikanern, räumt Besteck in den Besteckkasten.
Seit 39 Jahren arbeitet Beuchel im Speisewagen, mit 18 rauf auf die Schienen und los. Na, klar kann er sich noch an die Fahrten zu DDR-Zeiten erinnern, nach Polen, Rumänien und Tschechien, wie privilegiert man da war mit dem Reisen; kann sich erinnern, als sie zu sechst als Brigade auf sechs Quadratmetern ohne Klimaanlage 120 Gästen ein Drei-Gänge-Menü gekocht haben mit Schweinskotelett, Kirschkompott und allem Drum und Dran; entsinnt sich ans Kartoffelschälen davor, ans Spülen der vielen Teller danach, an die Schreibmaschine, auf der er die Speisekarte noch selbst getippt hat. Na, klar geht ihm das durch den Kopf, sein „leichtes Zigeunerleben“, wie er es nennt, Frau und Sohn warten zu Haus. Und wie sein Speisewagen dann, nach der Wende, das erste Mal zum Eiffelturm nach Paris fahren durfte – selbstverständlich geht ihm das nah, dass das jetzt irgendwie zu Ende geht. Beuchel ruckt am Metallgestell seiner Brille.
Noch im November hatten alle gefeiert. Die Mitropa hatte 85. Geburtstag, es gab eine Sekt-und-Orangensaft-Aktion in den Speisewagen, mit den Fahrgästen wurde angestoßen auf eine tolle Zukunft. Nun soll nach dem neuen Konzept der Bahn mit den Bordrestaurants auch der Name Mitropa aus den Zügen verschwinden.
Für Beuchel, der jetzt noch an Tische hastet, Rühreier bringt, Tischtücher glättet, während draußen Natur, Straße, hohes Gras, Industrie vorbeifliegen, für Beuchel bedeutet das nach 39 Jahren, nach einem halben Leben fast, den Wechsel zu einem neuen Arbeitgeber. Die Bahn will die Gastronomie im Zug in die Tochterfirma Reise & Touristik eingliedern. Die bisher auf den Schienen eingesetzten 2.700 Mitropa-Beschäftigten werden dorthin übernommen. Und weil es dann keine Trennung mehr gibt zwischen Kellnern und Zugbegleitern, wird Beuchel in Zukunft nicht nur mit einem neuen Wägelchen durch die Gänge zuckeln, sondern auch Fahrkarten knipsen. Der dienstälteste Koch hebt wieder die Schultern, was soll er dazu schon sagen? Es ist 12.11 Uhr, draußen liegt das Gewerbegebiet von Dresden.
Beuchel ist ein Kumpeltyp, der wird nicht explodieren und schimpfen und durchdrehen an einem hübschen Sonnentag vor seinen Gästen, vor der Presse. Wo man doch froh sein muss heutzutage, wenn man seinen Arbeitsplatz behält. „Keiner von uns soll gekündigt werden, das haben sie versprochen“, sagt Beuchel lahm, serviert ein Bier, zückt sein Portemonnaie, macht schon wieder einen Witz, so als sei ihm plötzlich wirklich alles egal.
Weil die Zeiten nicht mehr so sind, dass ein Versprechen ein Versprechen bedeutet, hat sich schon auch ein wenig Protest geregt. Rund 400 Mitropa-Mitarbeiter haben am Tag der entscheidenden Aufsichtsratssitzung Anfang Mai im Hauptbahnhof Frankfurt am Main demonstriert. Seither hat man nichts mehr gehört. Die Tarifabschlüsse der Bahn sind höher als bei der Mitropa, das könnte ein Grund dafür sein.
Überhaupt ist der Widerstand gegen das neue Bahn-Konzept eher verhalten. Es gibt eine Initiative „Pro Speisewagen“, die das Ganze einen „entscheidenden Marketingfehler“ nennt, weil die Bahn AG die eigentlichen Eisenbahnliebhaber verprelle. Es gibt einen Sprecher in Hamburg und eine Seite im Internet, aber Protestaktionen sind nicht geplant.
Man kann sich fragen, warum das so ist. Warum die Bahn mit einer ehrwürdigen Institution einfach so aufräumen kann. Die Gäste fragen jetzt schon mal nach, erzählt Beuchel, schimpfen ein bisschen. Aber die meisten werden sich ins Schicksal fügen. Mit einem Gefühl von Resignation allenfalls. So wie der Österreicher, der allein vor einer Tasse Espresso sitzt, still und böse. Palatschinken wünscht er sich, gibt’s hier nicht, nicht einmal Kaffeehausmusik, grantelt es aus ihm heraus, dann auch noch die Abschaffung des Restaurants. „Ein negativer Höhepunkt ist das wieder mal! Lähmend, geradezu lähmend!“ Der Zug poltert durchs Land.
Ja, es kann sein, dass die Leute müde sind vom Protest, vom Aufregen über die ständigen Veränderungen bei der Bahn, die Preiserhöhungen, die Umstrukturierungen, die Fahrkartenautomaten, die geänderten Routen. Es kann auch sein, dass der Speisewagen einfach eine verkitschte Idee aus vergangenen Tagen ist. Ein Mythos, der sich selbst überholt hat. Weil die warme Vorstellung von Eleganz und Reisekultur und Orient-Express im kühlen ICE-Design längst nicht mehr funktioniert. Wo weite Entfernungen auf zu kurze Fahrtzeiten zusammenschnurren, als dass sich ein Drei-Gänge-Menü noch lohnte; wo 2,55 Euro den Menschen zu teuer sind für eine Tasse Tee und die Chefs bange auf das Geld schielen, das der Beuchel sie jetzt wieder kostet, wo der Zug nach Dresden einfährt und kein einziger Gast mehr da sitzt. Man kann schreien und rufen und traurig sein – gegen das Unternehmenskalkül, den Faktor Geschwindigkeit, das Ziel Effizienz kommt man nicht an.
Nicht einmal Christoph Beuchel isst die Sachen aus seinem Speisewagen. Während der Fahrt hat er zu viel zu tun, sagt er. Wenn er gegen halb acht am Wiener Südbahnhof ankommt, geht er an die Imbissbude und bestellt sich eine Wurst.
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