: Das höchste der Gefühle
Was ist schlimmer: die Idee, dass die eigenen Eltern Sex miteinander hatten, oder der Verdacht, sie hätten fast keinen gehabt? Ein Sohn auf den Spuren seines womöglich ebenfalls schwulen Vaters
von KARL R. MÜLLER
Der Schlag trifft mich auf dem defekten Schlafsofa, als ich durch die Balkontür in den Kurpark hinunterschaue. Ein alter Mann im Gärtnerkittel überquert gerade die kleine Straße zum Seniorenwohnheim. Von hier oben, einem überhitzten Zimmer im vierzehnten Stock, sieht sein Körper seltsam kurz geraten aus, wie er gegen den immer noch heftigen Wind ankämpft. Es ist der zweitwindigste Tag des Jahres. Gestern sind zwei Frauen von einem umstürzenden Baum erschlagen worden. Gestern wäre ich gar nicht herausgefahren.
„Du musst doch nicht meinen“, sagt Tante Leni in diesem Moment, „dass zwischen deinem Vater und deiner Mutter viel gelaufen ist. Gut, er hat ihr drei Kinder gemacht. Aber das war doch schon alles.“ Und nach einer kleinen Pause: „Mein Bruder hat deine Mutter doch nicht mal in den Arm genommen. Phhh!“ Tante Lenis Emotionsquotient ist enorm. Aufregungen und Kränkungen voriger Jahrzehnte kann sie reaktivieren, als wären sie am Vormittag geschehen. Vor ein paar Tagen ist sie 83 geworden. Erstmals in meinem Leben sitze ich mit ihr allein am Kaffeetisch. Merkwürdig, aber es hat sich vorher nie ergeben; immer waren auch andere Familienmitglieder dabei.
Auf einmal passt alles zusammen. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz. Was, wenn mein Vater Frauen nicht begehrt hat, nicht begehren konnte? Was, wenn auch er schwul war? Was für ein abwegiger Gedanke. Väter, die sich in fortgeschrittenem Alter oder nach ihrem Tod als lebenslang schwul herausstellen, mag es in Romanen geben. Aber doch nicht mein Vater, der aufstöhnte „Dem bleibt aber auch nichts erspart!“, als Blake Carrington sich im „Denver Clan“ nicht nur mit seiner Exfrau Alexis herumschlagen musste, sondern auch mit seinem schwulen Filius Steven.
War ich blind, dass ich das Denkverbot bei mir nicht wahrnahm? Es hätte doch Anlass gegeben. Hat mich meine Stiefmutter nicht vor vielen Jahren eingeweiht, sie sei „noch keine tote Frau gewesen“, als sie meinen Vater heiratete? Damals hatte ich gestutzt – und schnell versucht, es wieder zu vergessen. Man stellt sich seine Erzeuger nicht gerne im Bett vor.
Was ging es mich an, was zwischen ihm und seiner zweiten Frau vorging? Bei meinen Eltern immerhin gab es dieses Kistchen mit Beate-Uhse-Prospekten, das mein Bruder und ich eines Tages im Korridorschrank gefunden hatten! Also gab es doch wohl ein elterliches Sexleben! (War das ein Versuch meiner Mutter, die körperliche Liebe doch noch zu retten?)
Mein Vater ist vor sechs Jahren gestorben. Oder sind es schon sieben? Bei den Todesfällen in meiner Kindheit kenne ich alle Daten auswendig: wann meine Großeltern starben, wann meine Mutter. Über meinen Vater weiß ich wenig. Er war sehr streng, immer wirkte er ein wenig unnahbar und Ehrfurcht gebietend. Dabei konnte er in vertrauter Runde durchaus lustig sein. Es sei denn, es ging um ihn selbst.
Da war zum Beispiel die Sache mit seinem Namen. Berthold hatte er heißen sollen, doch auf der Geburtsurkunde hatte der Standesbeamte das h vergessen. Und als es irgendwem schließlich doch auffiel, war es für eine gebührenfreie Korrektur längst zu spät. So wurde aus meinem Vater Bertold Müller ohne h – auch wenn sich kaum jemand daran hielt. Natürlich war jede zweite Post an Berthold Müller gerichtet, was ihn jedes Mal in eine schwache Form von Erbostheit versetzte – ein Kampf gegen Windmühlenflügel.
Meine Stiefmutter rastete fast aus, als sogar in seiner Todesannonce das h wieder auftauchte. Hatte sie der Dame von der Zeitung nicht dreifach (!) eingebläut, Bertold müsse unbedingt ohne h geschrieben werden? Immerhin bekam sie daraufhin die Kosten für die Danksagungsanzeige erlassen. Den Wutanfall konnte sie sich aufsparen für den Tag, an dem sie feststellte, dass der vermaledeite Buchstabe sich auch auf den Grabstein geschlichen hatte.
Was war eigentlich so schlimm an diesem h? Mein Vater war doch sonst kein Snob. Tante Lore, die jüngere seiner Schwestern, erzählte auf seiner Beerdigung, wie er ihr einmal seine Empfindlichkeit erklärt hatte. „Ich bin kein Holder!“, hatte er gesagt. Mir fiel fast der Plattenkuchen von der Gabel. Sollte das ein Scherzchen sein oder war es sein blutiger Ernst? Wie war er nur auf diese abwegige Assoziation gekommen? War er als Heranwachsender in Nazideutschland als unmännlich gehänselt worden? Wollte er deshalb das h loswerden? H wie „hold“? H wie – homo?
H wie herzlich jedenfalls war mein Vater nie so recht. Oder er hat es sich abtrainiert. Wie Tante Leni kann auch ich mich nicht erinnern, meine Eltern je innig miteinander gesehen zu haben. (Dabei war meine Mutter von sehr herzlichem Wesen.) Ich erinnere mich an einen Tag, da war mein Vater von der Arbeit gekommen, hatte mich Fünfjährigen auf den Schoß gesetzt und mir einen Kuss gegeben. Und ich erinnere mich, dass ich mich aus seiner Umarmung wand und schreiend davonlief: „Mama, Mama, deine Küsschen schmecken viel besser als die von Papa!“ Danach hat er mich nie wieder geküsst, nie wieder auf den Schoß genommen.
Vor allem war mein Vater arbeitsam, fleißig und gewissenhaft. Ein typisches Kind seiner Generation, die früh Verantwortung für die Eltern übernommen hatte (und später den eigenen Kindern immer misstraute, ihrerseits Verantwortung tragen zu können). In jeder freien Minute bastelte er am Haus herum, leitete an, verteilte Aufgaben. Das Geschaffte einmal in Ruhe zu genießen, dazu fehlte ihm die Gabe.
Früh habe ich an ihm einen Unwillen mir gegenüber wahrgenommen, den ich mir lange nicht erklären konnte. (Was war an meinen Brüdern so anders, dass sie nie Gefahr liefen, seine Ablehnung zu provozieren?) Ich nahm nur wahr, dass ich in seiner Gegenwart besser nicht mit der Puppe spielen sollte, die ich irgendwann geschenkt bekommen hatte und mit der ich mich viel lieber beschäftigte als mit den Cowboy- und Ritterfiguren, die meine Brüder bevorzugten. Wieso wirkte mein Vater immer, als habe er Mühe, mich nicht anzuherrschen, wenn ich meine improvisierte Puppenstube aufklappte? Was die Sache noch ärger machte, war das deutliche Gefühl, sein Vorbehalt beträfe nicht nur mein Tun, sondern mein Wesen, mich als Person. Ich stand unter irgendeinem schlimmen Verdacht. (Hatte er Angst, dass ein unmännlicher Sohn ihn verraten könne?)
Ein Gespräch darüber, dass ich schwul war, kam erst zustande, als ich schon ein paar Jahre ausgezogen war. Meine Stiefmutter hatte mir geraten, meinem Vater nichts zu sagen. Er würde nicht damit umgehen können. Er fand es selbst heraus, indem er in meinen Sachen herumspionierte. Als ich davon erfuhr und ihn anrief, erlebte ich zum ersten Mal, dass er weinte. Er machte mir keine Vorwürfe, er weinte, weil ich ihn als nahezu einzigen in der Familie nicht informiert hatte. Ob er denn so ein Monster sei, fragte er, dass niemand mit ihm spräche. Meine Stiefmutter sagte mir später, meine Homosexualität hinnehmen zu müssen habe ihn weicher gemacht. (Es war ein Kampf, den er verloren hatte!)
Als ich das nächste Mal nach Hause fuhr, wollte ich ein neues Schweigen vermeiden. Wenn er Fragen habe, sagte ich, solle er mich nur ansprechen. Er hatte keine. Nur soviel wolle er mir sagen: Er in meiner Situation würde alles daransetzen, sich anderweitig zu engagieren, etwa im Sportverein. Einfach um nicht immer nur wieder mit „solchen Menschen“ zu tun zu haben.
Oft fallen einem die besten Antworten erst später ein, doch diesmal sprudelte es aus mir heraus: „Aber deine Gattin ist doch auch immer dieselbe!“ Denn ich hatte seinen Einwand so verstanden, es sei okay, wenn sein Sohn schwul ist, nicht aber (igitt!), dass er mit anderen Schwulen zu tun hat. Eine dauerhafte Verbindung zweier Männer war in seinem Weltbild offenbar nicht vorstellbar, allenfalls Sex. Und ich dachte: Typisch (und fast ein wenig rührend), dass er mit einem Vorschlag aus seinem eigenen Leben kommt: dem Verein. Sport statt Sex und Nähe! Erst anschließend dachte ich erschrocken: Aber mein Vater ist im Verein aktiv! Hatte er also gerade von sich selbst gesprochen? (Schnell wieder vergessen!)
Vor allen Hinweisen auf Homosexualität schien mein Vater einen Gräuel zu haben. Als ich vor Jahren mit einem Freund eine Radtour in der Nähe meines Elternhauses machte und das Rad einen Platten bekam, klingelte ich und fragte nach Flickzeug. Mein Vater holte eilfertig alles Gewünschte, aber es war kaum zu übersehen, dass er vor meinem Begleiter geradezu in den Werkzeugkeller flüchtete. Er mühte sich, den Freund nicht einmal anzusehen.
Sollte mein Vater wirklich homoerotische Neigungen gehabt haben, so bin ich sicher, dass er sie in seinem erwachsenen Leben nie auslebte. Ein verstohlener Blick dürfte „das höchste der Gefühle“ gewesen sein. Noch so ein Blitz aus der Vergangenheit: Irgendwann war mir ein Foto aufgefallen, das er auf einer Helgolandfahrt aufgenommen hatte. Er hatte es von der Brücke herunter geschossen, mit Blick aufs Deck, auf dem etliche Passagiere in verschiedenen Stadien der Seekrankheit herumlagen. In all dem Durcheinander auf Deck fixiert ein einziger Mann die Kamera aus dem Augenwinkel. Seinen Blick kennt jeder Schwule: Es ist der Blick eines Mannes, der wahrnimmt, beobachtet zu werden, bei dem aber noch nicht absehbar ist, wie die Reaktion sein wird, komplizenhaft oder schroff. (Ein hübscher Mann, wirklich. Ich merke, wie sich mein Haar sträubt. Haben wir denselben Geschmack gehabt? Nicht weiter darüber nachdenken!)
Ob es ein Trost für seine Frauen war, dass sie keine Konkurrenz fürchten mussten? Von Männern nicht und auch nicht von anderen Frauen. Seine zweite Frau hat sich irgendwann schadlos gehalten, indem sie gelegentlich Liebhaber hatte. Und er hat ihr alles vergeben. Ich wunderte mich damals, wie es meinem prinzipienstrengen Vater gelang, ohne Besitzattitüde um sie zu kämpfen. (Ist meine Mutter so früh gestorben, weil sie aus meines Vaters körperlicher Lieblosigkeit keinen Ausweg fand?)
Tante Leni ist längst bei einem anderen Thema angekommen, ihrer neuen Schwiegertochter in spe. Ihr Reservoir an heiklen Erinnerungen, seien sie alt oder neu, ist schier unerschöpflich. Wollte sie mich mit der Nase auf einen Sachverhalt stoßen, über den sie selbst nur mutmaßen kann? (Sie zog in den Kurort, als mein Vater elf war. Sie kennt ihn nur von Besuchen!) Ist sie überhaupt eine verlässliche Zeugin? Könnte sie die Fragen beantworten, die mich bestürmen? Und bin ich bereit, ihr die Deutungshoheit über meine widerstreitenden Erinnerungsfragmente einzuräumen?
Da ist er wieder, der längst kurierte Schmerz, mich als Sohn minderer Wahl zu fühlen, nun angereichert mit dem Beiklang des väterlichen Verrats. Und doch ahne ich, dass mir mein Vater unter dem Verdacht verständlicher geworden ist, sogar näher gerückt ist. (Auch wenn er diese Nähe nicht gesucht, ja gemieden hat.) Das einstige Mysterium seiner Ablehnung, es wendet sich ja zuvörderst gegen ihn selbst. Kein schönes Gefühl, aber doch ein besseres. Durch den Kurpark fegt eine neue Bö.
KARL R. MÜLLER, 40, lebt als freier Autor in Hamburg und Bad Liebenwerda
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