piwik no script img

Mama, hilf mir, ich lieb dich doch!

Bericht vom Tag im Leben meiner Mutter, an dem sie sich mit viel zu viel Weinbrand und Valium mit meinem Schwulsein abzufinden suchte – und es doch zunächst in ihrer Hilflosigkeit nicht schaffen konnte

von FRANK KESSLER

Als ich heute mein Fahrrad im Hof abstellte, hörte ich ein Kind, das hinter der halbhohen Mauer zum Nebenhaus stand, für mich unsichtbar. Der Stimme nach war es ein kleiner Junge. Der Kleine rief laut über alle Höfe: „Mama, ich liiiiebe dich!“

Oben im vierten Stock des Nachbarhauses zeigte sich eine blonde Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Sie sah mich nicht, sodass ich sie von den Fahrradständern aus heimlich einen Moment weiterbeobachten konnte. Sie schien peinlich berührt zu sein. „Ich liebe dich auch. Aber sei nicht so laut“, rief sie ihrem Sohn lächelnd zu. Ich nahm diesen Moment in mich auf, ging Richtung Treppenhaus, als ich den Jungen nochmals durchdringend und mit leichtem Lispeln rufen hörte. „Wass gibss zssu esssen?“

Wenn ich an meine Mutter denke, fallen mir gerade jetzt viele Geschichten meiner Hilflosigkeit ein. Auf dem Töpfchen und später auf dem Klo sitzend und durchs ganze Haus „Fertig!!“ brüllen. Das Warten auf den Gutenachtkuss. Wieder aufstehen, wenn sie es vergessen hatte.

Der wahrscheinlich lustigste Moment war, als wir beide mit Holzpantinen in der Küche tanzten und meine Mutter im Schwung eines Schritt den Holzschuh verlor, dieser durch die Luft segelte und die Küchenlampe abschoss. Sehr schön waren auch die Momente im sonst immer viel zu einsamen und zu toten Forsthaus, wo wir manchmal im Winter nach dem Schlittenfahren im Hausflur standen und alle drei, sie, meine Schwester und ich, aus Leibeskräften brüllten.

Natürlich immer nur, wenn unser Vater, der Oberförster, nicht zu Hause war. Denke ich an meine Mutter, fallen mir beim Schreiben wieder die zärtlichsten Momente ein. Und ich frage mich, ob alles so nah und so zärtlich war. Oder ob ich diese Zeit glorifiziere, die lange, lange hinter mir liegt.

Das soll aber auch nicht so klingen, als ob sie gestorben sei, was sie nicht ist. Es ist nur vielmehr so, dass wir vor längerer Zeit an einem Punkt angekommen waren, wo wir uns wirklich nichts mehr zu sagen hatten. Weil alles gesagt zu sein schien. Es war der Moment, als ich ihr sagte, dass ich wohl eher Männer lieben würde.

Ich hatte es mir so schön ausgemalt, unser Gespräch. 1988 war es, im Sommer. Ich hatte etwa vier Wochen zuvor meinen ersten Freund kennen gelernt und hatte die sprichwörtliche Kraft der zwei Herzen. Diese absolute Verliebtheit – ich konnte ja nicht ahnen, dass dieser Mann später auch die Ursache meiner ersten Gesprächstherapie werden sollte – gab mir sehr viel Mut.

Und so plante ich, meine Mutter zum Essen einzuladen. Bei Kerzenschein die Hand auf die ihre zu legen und zu sagen: „Weißt du, ich denke, du fühlst wahrscheinlich längst, worum es geht. Und was ich dir sagen will. Ich bin nämlich sehr verliebt. Aber in einen Mann. Mutti, ich glaube, ich bin schwul. Aber es geht mir sehr gut damit. Also mach dir keine Sorgen oder Vorwürfe.“

Ein anderes Szenario sah auch meinen Vater mit am Tisch. Zwar waren meine Eltern zu der Zeit bereits bald zehn Jahre getrennt, aber ich brauchte sehr lange, um ihre Trennung zu verwinden. Und ich hätte mir ein Wiedersehen mit beiden Eltern gut vorstellen können. Sie sich dafür überhaupt nicht.

Also verwarf ich diesen Plan. Es war aber auch nicht wichtig. Alles war in diesem Sommer so rosa und leicht, sorglos. Bis zu diesem Donnerstag. Oder war es ein Dienstag? Egal. Es war schon so eine seltsame Stimmung im Raum. Wir wuschen zusammen ab. Ich übernahm das Abtrocknen. Draußen war es warm, in der Küche etwas stickig.

Ich wohnte seit einigen Monaten wieder zu Hause, nachdem ich bei meiner Freundin Heike ausgezogen war. Es war keine besonders gute Idee, zurückzukommen, aber nahe liegend. Wir gingen uns in der Enge von knappen siebzig Quadratmetern für vier Personen doch etwas auf die Nerven. Wer an diesem Abend nun das Gespräch eröffnete, weiß ich nicht mehr. Sie muss es gewesen sein. Ob ich denn nach Heike nun wieder eine neue Freundin suche.

Ich erwiderte irgendetwas Ausweichendes. Und fühlte mich erbärmlich. Es war wie eine überdimensionale Schicksalsfruchtblase. Ich dachte nur die ganze Zeit: „Warum hier und warum jetzt?“ Es war so entwürdigend, zwischen Spüle, Anrichte und Wachstuchtischdecke darüber zu reden. Ich hatte es zelebrieren wollen. Stattdessen der wirklich sehr profane Weg.

Ich erinnere mich noch, dass sie kaum die Miene verzog. Es lag am ehesten noch ein Verstehenwollen in ihrem Blick, nach einigen Minuten kam dann irgendwie ein Nicht-verstehen-Können. Ich meine, sie sagte auch noch so etwas wie: „Sei mir nicht böse. Aber bring erst mal keine Männer mit. Da brauche ich jetzt wohl ein bisschen Zeit, um damit klarzukommen.“

Ich war in meiner Verliebtheit so egoistisch, dass ich gleich nach dem Gespräch in das Café fuhr, wo mein schöner Freund zu der Zeit jobbte. Natürlich musste ich ihm brühwarm erzählen, dass nun nach meiner Schwester, die ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit ein halbes Jahr zuvor eingeweiht hatte, nun auch meine Mutter Bescheid wisse. Mein Vater sei ja nun als Nächstes dran, und wir schmiedeten Pläne, dass ich wenigstens mit ihm in ein Restaurant gehe, mein Freund sich aber inkognito an den Nebentisch setzt.

Eine herrliche Coming-out-Laune. Nun war ich kaum noch zu Hause. Ich genoss es, aus dieser Enge ausbrechen zu können, war viel bei meinem Freund, in dessen WG, ging in diesem Sommer oft bei Sonnenaufgang ins Bett, um zwei Stunden später aufzustehen und die letzten Tage meiner Banklehre abzusitzen. An einem dieser Tage, es war an einem Wochenende, kam ich unangekündigt nach Hause zurück. Ich wollte mir wohl frische Wäschen holen.

Als ich die Wohnungstür öffnete, war helle Aufregung. Und schon bald sah ich den Grund. Meine Mutter hatte sich offenbar mit einer halben Flasche Weinbrand betrunken und obendrein Valium geschluckt. Die hatte sie öfter im Haus, weil sie rührende Anlässe wie Trauerfeiern oder Konfirmationen lieber leicht sediert hinter sich brachte. Weder wusste ich, wie viel sie genommen hatte, noch ob sie in Gefahr war.

Meine Schwester und ich hatten das schon einmal erlebt. Mein Sockel bei ihr, so ihre Worte, war bereits mächtig angeknackst, als ich sieben Jahre zuvor mit vierzehn beim Klauen erwischt worden war. Ihre Bewältigungsstrategie schon damals: Weinbrand und Valium. Es ist eigentlich zum Totlachen, nur wussten wir beiden Kinder damals wirklich nicht, ob sie durchkommen würde. Im Minutenrhythmus überprüfte ich ihre Atmung mit einer Kissenfeder.

Dieses Mal schien sie einfach nur richtig besoffen zu sein. Es war so erbarmungslos. Ich empfand Wut und Abscheu, da mir emotional nicht sehr viele Alternativen blieben. Keineswegs empfand ich Reue. Sie weinte, jammerte und goss sich noch einen ein. Und dann kam es. Sie lallte es zunächst und traute sich irgendein „A-Wort“ nicht auszusprechen. Ich musste es förmlich aus ihr herauspressen. Es sei doch alles ganz furchtbar. „Ja was denn?“, fragte ich sie. Schlimm sei es. „Wa-has?“

Sie brachte es einfach nicht über ihre Lippen. Und dann doch; das gesuchte Wort lautete: Arschficker. Ich habe heute vergessen, wie genau sie es meinte. Ich glaube aber, sie wollte mir damit andeuten, dass die Leute so über mich sprechen könnten. Immer wieder kam in der nächsten Zeit der Hinweis, dass die Nachbarn das nicht erfahren dürften. Ich würde ja schließlich irgendwann weggehen, sie aber würde mit ihrem neuen Freund hier wohnen bleiben. Das müsse ich doch verstehen.

Das verstand ich aber nicht. Auch nicht ihren inneren Aufruhr. Irgendjemand fragte mich später mal, ob meine Mutter Analverkehr gehabt habe. Mütter, die Analverkehr schätzen würden, hätten einen anderen Zugang zum Schwulsein ihres Sohns. Wir redeten dann irgendwann auch darüber, und sie verriet mir, dass sie ein wirkliches Problem mit Analverkehr habe. Offensichtlich. Ein Anfang war aber gemacht.

Bei den weiteren Schritten hat ihr meine Schwester geholfen, die nun endlich mit ihr darüber reden konnte. Wenn ich mir überhaupt einen Fehler vorwerfe aus dieser Zeit, dann den, einer Vierzehnjährigen das Schweigegelübde abzunehmen, nicht mit der eigenen Mutter und auch mit niemand sonst über mein Schwulsein zu reden. Meine Schwester hielt das tatsächlich durch, aber es fiel ihr sehr schwer, denn es machte sie einsam.

Und ich hatte mit meinem Verliebtsein zu tun. Heute gestehe ich meiner Mutter ihre „Szene“ zu. Es war damals für alle ziemlich entwürdigend, aber am ehesten wohl für sie. Und dazu war sie sich nicht zu schade. Es hat sie mächtig nach vorne gebracht. Ob da etwas und was in ihr genau kaputtging, vermag ich nicht zu sagen. Aber es ist definitiv etwas nachgewachsen. Sie war erst vor wenigen Wochen bei mir und meinem Freund – nicht dem von damals – zu Besuch, plauschte mit ihm und aß sich satt.

Mein Vater und seine zweite Frau stehen kommendes Wochenende mit einem Besuch an. Und meine Schwester muss ich auch dringend wiedersehen. Das Coming-out meiner Mutter, will sagen, mein Coming-out, das sie irgendwie für mich durchlebte, war vielleicht der wichtigste Schritt, um unser Familienpuzzle neu zusammenzufügen.

Seitdem ist bei uns allen Ruhe eingekehrt. Und aus einer typischen Achtzigerjahre-Scheidungsfamilie wurde ein ganz gutes Team. Zwar würde ich mich gar nicht trauen, quer über den ganzen Hof meiner Mutter „Ich liebe dich!“ zuzurufen. Aber beim Abschied so lange zu winken wie möglich – das muss immer noch sein.

FRANK KESSLER, 32, lebte als Landwirt in Bredstedt und heute als Accountmanager und Autor im Berliner Bezirk Köpenick.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen