: „Rechtsprechung jahrelang bewusst unterlaufen“
Völkerrechtler Prof. Norman Paech hält Befehlsnotstand als Rechtfertigung für Erschießungen nicht für hinreichend
taz hamburg: Herr Paech, wenn das Gericht den Ausführungen des Engel-Verteidigers folgt, dass Geiselerschießungen zwischen 1939 und 1945 vom Völkerrecht gedeckt gewesen seien, wäre er frei zu sprechen.
Norman Paech: Es wäre nicht das erste Gericht. Mit der Begründung, dass Vergeltungsmaßnahmen gegen Partisanen und Zivilisten legal waren, haben deutsche Gerichte solche Verbrecher immer wieder straffrei ausgehen lassen. Allerdings folgt diese Begründung nicht der Rechtsprechung des 7. Nürnberger Nachfolgeprozesses von 1948, dem Geiselmordprozess.
Damals verhandelte das Gericht die Massaker von SS und Wehrmacht in Jugoslawien und Griechenland. Zwar stellte es fest, dass Partisanen nicht den Kombattantenstatus nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 hatten und deshalb in besonderen Fällen Repressalien gerechtfertigt waren, aber ausdrücklich nur „unter bestimmten Umständen“ und nur „als letzte Maßnahme“. In den Verfahren gegen die Generäle, die in Distomo, Kalvrita, Klissura und Kommeno die Exzesstaten befahlen, wurde die Verhältnismäßigkeit verneint, da „militärische Notwendigkeiten nicht die Tötung von unschuldigen Einwohnern zum Zwecke der Rache oder der Befriedigung der Lust am Töten rechtfertigen‘‘. Die Generäle wurden als Kriegsverbrecher verurteilt.
Die Verteidigung spricht von „Befehlsnotstand“.
Die Verteidigung berief sich auf den berüchtigten Bandenbekämpfungsbefehl des Führers vom Dezember 1942. Aber das bedeutet nicht, dass jeder verpflichtet war, unbeteiligte Zivilisten zu ermorden. Er besagte vor allem, dass „kein in der Bandenbekämpfung eingesetzter Deutscher wegen seines Verhaltens im Kampf gegen die Banden und ihre Mitläufer disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden darf“. Dies kann nicht dazu benutzt werden, einen Befehlsnotstand zu behaupten.
Hat die deutsche Rechtssprechung das Urteil von Nürnberg jahrelang unterlaufen?
Ja, die Justiz in der Bundesrepublik hat nicht in jedem Fall geprüft, inwieweit die besonderen Umstände vorlagen. Stattdessen nahm sie zumeist pauschal einen völkerrechtlichen „Notwehrtatbestand“ an. Das Augsburger Landgericht argumentierte 1951 in dem einzigen Verfahren, welches die Massaker in Griechenland zum Gegenstand hatte, dass die Voraussetzungen der völkerrechtlichen Notwehr gegeben waren, weil „die Kampftätigkeit der Zivilbevölkerung ein rechtswidriger Angriff war, der Griechenland mittelbar als völkerrechtliches Delikt zuzurechnen sein dürfte“. Damit drehten sie die Rechtswidrigkeit um. Nicht etwa den Überfall der Wehrmacht deklarierten sie als rechtswidrig, sondern den Widerstand der Überfallenen.
Kein Verantwortlicher von „Sühneaktionen“ wurde je in Deutschland verurteilt?
Niemand ist strafrechtlich belangt worden. Es kann sein, dass einige zur Rechenschaft gezogen worden sind, sie sind aber dann mit skandalösen Konstruktionen der Verjährung durch den Bundesgerichtshof oder wegen angeblichen Notstandes freigesprochen worden. Bis heute hat die Rechtsprechung nicht nur versäumt, dem Urteil aus Nürnberg zu folgen, sie hat es auch bewusst unterlaufen.
Interview: Andreas Speit
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