Spätabtreibung zulässig

BGH hält Abtreibungsrecht für verfassungskonform. Pfuschende Ärzte müssen weiter Schadenersatz zahlen

KARLSRUHE taz ■ Spätabtreibungen verstoßen nicht generell gegen das Grundgesetz. Dies entschied gestern der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Grundsatzurteil. Ärzte müssen deshalb im Prinzip auch dann Schadenersatz zahlen, wenn infolge von Diagnosefehlern eine Abtreibung vor der Geburt unterbleibt.

Konkret ging es um ein Ehepaar aus Bayern, dessen Sohn Sebastian ohne Arme und mit Beinstummeln auf die Welt kam. Die betreuende Ärztin hatte bei der Ultraschall-Untersuchung Hinweise auf die schwere Behinderung übersehen. Die Eltern verlangen nun von der Versicherung der Ärztin den Unterhalt für das Kind, das sie abgetrieben hätten, wenn sie richtig informiert gewesen wären. Tatsächlich leidet die Mutter seit der Geburt an einem Trauma und kämpfte im Gerichtssaal immer wieder mit den Tränen.

Der Anwalt der Ärztin, Achim Krämer, argumentierte, dass eine Abtreibung rechtlich unzulässig gewesen wäre. Früher mussten Abtreibungen, die mit der Behinderung des Fetus begründet werden, bis zur 22. Woche durchgeführt werden. Diese „embryo-pathische Indikation“ war aber 1995 abgeschafft worden. Eine Abtreibung außerhalb der Fristenlösung kann jetzt nur noch mit Gefahren für die Gesundheit der Schwangeren begründet werden, wozu auch Depressionen und Selbstmordgefahr gehören. Faktisch kennt das neue Abtreibungsrecht damit keinerlei Zeitgrenzen für Spätabtreibungen mehr, was Krämer für „verfassungswidrig“ hielt. Nach seinen Angaben sind in der 22. Schwangerschaftswoche schon rund ein Drittel der Feten mit Hilfe von Intensivmedizin lebensfähig.

Der BGH lehnte diese Argumentation nun ab. Ebenso wie der Schutz der Leibesfrucht in allen Stadien der Schwangerschaft bestehe, sei es auch für die Frau stets unzumutbar, ihre Gesundheit für das werdende Kind aufzuopfern. Die Einführung absoluter Fristen für Abtreibungen sei daher nicht erforderlich, erklärte die Vorsitzende Richterin Gerda Müller. Allerdings sei stets eine Interessensabwägung vorzunehmen, bei der auch die Dauer der Schwangerschaft eine große Rolle spiele. Im Fall des bayerischen Ehepaars hätte die Abtreibung in der 22. Woche stattgefunden, was nach Ansicht des BGH noch keine echte Spätabtreibung sei. Da die Frau tatsächlich depressiv wurde, wäre eine Abtreibung rechtlich zulässig gewesen, und die Versicherung der Ärztin muss nun für den Unterhalt des Kindes aufkommen.

CHRISTIAN RATH