: Finnische Verhältnisse in Britz
Die Fritz-Karsen-Schule, die älteste Gesamtschule der Republik, praktiziert seit mehr als 50 Jahren das, was die Finnen an die Spitze der Pisa-Studie befördert hat: die Einheitsschule, in der alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden – von der ersten Klasse bis zum Abitur. Ein Besuch in Britz
von SABINE AM ORDE
Beschaulich ist es hier. Einfamilienhäuser säumen die Straßen, einige davon sind blau, rostrot oder ockergelb angemalt. Vor den Haustüren baumeln Blumenampeln, die meisten Hecken sind beschnitten. Der Bauhaus-Architekt Bruno Taut hat die Einfamilienhäuser in den 20er-Jahren gebaut, auch die dahinter liegenden, rund angeordneten Mehrfamilienhäuser mit dem Teich in der Mitte, die der Hufeisensiedlung in Britz ihren Namen gaben. In den Straßen ist es ruhig, ein Eichhörnchen huscht über den Bürgersteig. Und ausgerechnet hier soll es eine Schule geben, die konsequent auf die Einheit der SchülerInnen statt auf ihre Aufteilung setzt – und damit quer liegt zur Grundstruktur des streng gegliederten deutschen Schulsystems? Die Ernst macht mit der Einheitsschule von der Vorklasse bis zu Stufe 10 – und weiter bis zum Abitur?
Von außen sieht die Fritz-Karsen-Schule wie viele Berliner Schulen aus: groß, grau und baufällig. „Natürlich müsste hier vieles gemacht werden“, sagt Beate Augustin-Hering, „aber darauf kommt es nicht an.“ Augustin-Hering ist Elternvertreterin, eine Frau, die klare Positionen hat und diese ebenso klar vertritt. Das gilt besonders, wenn es um ihre Söhne geht. „Die Fritz-Karsen-Schule ist das Beste, was denen passieren konnte“, sagt sie. „Soziale Kompetenz und Arbeitstechniken sind wichtiger als Faktenwissen.“ Robin und Patrick, die 12-jährigen Zwillinge, die neben ihrer Mutter am Schuleingang stehen, grinsen. Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden dieses Loblied auf ihre Schule hören. Denn nicht nur sie und ihr großer Bruder Felix haben die Fritz-Karsen-Schule besucht, die ihren Namen von einem Schulreformer der Weimarer Republik hat und hier kurz FKS genannt wird. Auch die Mutter wurde hier eingeschult – und hat hier Abitur gemacht. „Schon damals war die FKS etwas ganz Besonderes: die einzige Gesamtschule in Berlin“, sagt Augustin-Hering. „Und wie viele in der Siedlung, standen meine Eltern hinter dem Konzept: dass alle Kinder gemeinsam lernen gehen sollen.“
An diesem Konzept hält die Fritz-Karsen-Schule, in der täglich knapp 100 LehrerInnen mit 1.200 SchülerInnen arbeiten, auch heute noch fest. Sie ist mit über 50 Jahren nicht nur die älteste Gesamtschule der Republik, sie bietet auch alle Klassen von der Vorschule bis zum Abitur. Und: Das Kollegium setzt auf den Klassenverband. Anders als an anderen Gesamtschulen läuft fast der gesamte Mittelstufenunterricht in diesen festen Gruppen, die mit je zwei KlassenlehrerInnen ausgestattet sind. Eine Aufteilung nach Leistungen gibt es nur in Englisch und Mathematik. Schulverwaltung und Kultusministerkonferenz haben dafür eine Sondererlaubnis erteilt.
„Eigentlich sollten in Berlin nach dem Krieg alle Schulen so werden“, erzählt Schulleiter Lothar Sack, ein drahtiger, schmaler Mann in den Fünfzigern. „So stand es damals auf Drängen der Amerikaner im Berliner Schulgesetz.“ Deshalb wurde die FKS, eine Neugründung nach dem Krieg, als Reformeinheitsschule konzipiert. Acht Jahre sollten hier alle Kinder zusammen zur Schule gehen – und so auch Demokratie lernen. Doch in den Fünfzigerjahren wurde das Schulgesetz novelliert, die Einheitsschule wieder abgeschafft. Als Kompromiss blieb die sechsjährige Grundschule – und die Einheitsschule FKS.
Für das Kollegium heißt das zweierlei: Die Kinder, die es sich in der Grundschule heranzieht, bleiben ihm erhalten – mit allen Stärken und Schwächen, die sich in den ersten sechs Klassen ausgeprägt haben. Und: Die LehrerInnen haben es mit sehr unterschiedlichen SchülerInnen zu tun. „Das ist eine Herausforderung“, sagt Sack, „der sich die anderen Schulen nicht stellen.“ Für Jürgen Baumert, der die Pisa-Studie in Deutschland geleitet hat, liegt hier das große Problem der hiesigen Schulen: „Deutsche Lehrer können nicht mit Heterogenität umgehen.“
Gabriele Rissmann versucht tagtäglich genau das. Gerade hat sie zwei Stunden Erdkunde in der Klasse 9.5 hinter sich. „Wenn das nur immer so gut laufen würde“, sagt die Lehrerin und lässt sich auf eine Bank auf dem Flur fallen. Eine der Arbeitsgruppen hat gerade China vorgestellt. An der Tafel steht die Gliederung des Vortrags, an der Wand hängen Landkarte und Plakate mit den wichtigsten Stichworten darauf. Davor stehen vier Teenager mit Karteikarten. Ruhig reden die drei Mädchen über Ming-Dynastie und Volksrepublik, erklären, wie der Gelbe Fluss zu seinem Namen kam und was es mit der Politik der Ein-Kind-Familie auf sich hat. Dann ist Steffen dran. „Die meiste Industrie gibt es in Peking“, sagt er langsam und kämpft mit jedem Wort. Kein Witzeln, kein Tuscheln, die Klasse hört aufmerksam zu. „Steffen kommt von der Sprachheilschule“, sagt Rissmann später. „Er ist klug, aber eben nicht so schnell, die drei Mädchen haben das gut aufgefangen.“
Seit Januar haben sich die sechs Arbeitsgruppen der 9.5 mit unterschiedlichen Regionen der Welt beschäftigt, dabei quasi das Erdkundebuch unter sich aufgeteilt. Zusätzliches Material gab es von der Lehrerin, in der Bibliothek, im Internet. Daraus hat jede Gruppe eine Präsentation erarbeitet. Wie man das macht, haben die SchülerInnen in den Jahren zuvor gelernt. Ab Klasse 5 steht in der FKS jährlich eine Trainingswoche auf dem Stundenplan. Wie arbeite ich im Team?, lernen die Kinder dann. Wie lese ich einen Text, wie arbeite ich mit Karteikarten? Wie muss eine gute Gliederung, ein gutes Plakat aussehen? Im Fachunterricht wird das erprobt. „Wir wollen, dass die Kinder Schlüsselqualifikationen lernen“, sagt Schulleiter Sack, der seit den 60er-Jahren an der FKS ist. Selbstständigkeit, Verantwortungsgefühl, Organisationskompetenz und Teamfähigkeit, das genau sei doch im Beruf gefragt.
„Das macht viel mehr Spaß, als wenn uns der Lehrer das alles erzählt“, findet auch eine der China-Expertinnen, die in der Pause mal kurz durchatmen kann. Und Lehrerin Rissmann, die sich selbst eher als „Bildungsbegleiterin“ versteht, meint: „Zum einen halte ich selbst so den Tag viel besser durch, vor allem aber eröffne ich jedem Kind seine Möglichkeit.“ Durch die Gruppenarbeit könne sie auf jeden einzelnen Schüler besser eingehen, und die Kinder könnten besser voneinander lernen. Schulleiter Sack und sein Kollegium fühlen sich von der Pisa-Studie bestärkt: Schließlich hat die Einheitsschule Finnland an die Spitze des internationalen Schülervergleichs befördert. Und auch gezeigt, dass der gemeinsame Unterricht nicht nur für schwache, sondern auch für leistungsstarke Schüler von Vorteil ist.
Doch auch Berlin-Britz ist von Helsinki weit entfernt. Nur wenige hundert Meter von der Fritz-Karsen-Schule steht das Einstein-Gymnasium. „In einem gegliederten Schulsystem wie in Deutschland kann eine Gesamtschule nicht ihre optimalen Möglichkeiten entfalten“, sagt Schulleiter Sack. Das ist sehr vorsichtig formuliert. Denn beim Pisa-Bundesländervergleich haben Länder wie NRW und Hessen, die einst stark mit Gesamtschulen experimentiert haben, ziemlich schlecht abgeschnitten – auch was die soziale Chancengleichheit angeht. Mit den finnischen Gesamtschulen aber vergleichen kann man diese Schulen nicht. Denn in dem skandinavischen Land gibt es weder Gymnasien für die besonders guten noch Hauptschulen für schwache Schüler. Dort besuchen alle Kinder neun Jahre lang gemeinsam die Gesamtschule.
Ein ähnliches System hätte Sack auch gern in der Bundesrepublik – und die FKS ist davon so weit auch gar nicht entfernt. Weil sie – im Gegensatz zu anderen Gesamtschulen – mit der Grundschule beginnt, kommen fast alle Kinder aus der näheren Umgebung – egal welcher sozialen Herkunft und welcher Muttersprache. Und die meisten SchülerInnen bleiben nach der Grundschulzeit, selbst wenn sie eine Gymnasialempfehlung in der Tasche haben.
„Bei uns“, sagt Beate Augustin-Hering, „war es ganz klar, dass Felix nicht auf das Einstein-Gymnasium wechselt.“ Dass Gesamtschulen einen schlechten Ruf haben, hat weder Eltern noch Sohn gestört. Bei den Zwillingen sieht es anders aus. „Sie sind beide Legastheniker und werden hier kein bisschen ausgegrenzt.“ Augustin-Hering glaubt, an anderen Schulen wäre das der Fall. „Aber an der FKS werden beide gefördert: gute und schlechte Schüler.“
Wie die engagierte Mutter haben das viele Eltern am eigenen Leib erfahren. Fast ein Drittel der Eltern, schätzt Augustin-Hering, haben selbst die FKS besucht. Das ist eine der wenigen Zahlen, an denen sich Zufriedenheit mit und Erfolg der Schule messen lassen. Eine andere sind die 35 bis 45 Prozent der SchülerInnen, die nach der Mittelstufe die Berechtigung für die gymnasiale Oberstufe bekommen. Das ist überdurchschnittlich viel. Letztlich belegen aber lässt sich der Erfolg nicht. Dafür fehlt in Berlin das Zahlenmaterial.
Gabriele Rissmann ist seit 28 Jahren Lehrerin, früher war sie an einer Steglitzer Realschule. Da sei alles viel starrer und weniger innovativ gewesen, sagt sie. Vor allem aber gab es einen Unterschied: „Wenn es Probleme gab, konnten wir die Schüler immer noch in die Hauptschule schicken.“ Von der Methodik der FKS hat Rissmann über ihren Sohn Christian erfahren. Der 19-Jährige hat gerade Abitur gemacht und die Schule von der ersten Klasse an besucht. „Wir waren die Ersten, an denen sie dieses neue Methodentraining ausprobiert haben“, sagt Christian, der jetzt zur Bundeswehr geht und dann Pilot oder Bankangestellter werden will, und grinst. „Und manchmal haben wir das wirklich belächelt.“ Bei der Abiturvorbereitung aber, gibt er dann zu, „habe ich Texte nach diesem System gelesen und auch mit Karteikarten gearbeitet“. An einen Wechsel auf das Gymnasium habe er nicht gedacht. Christian Rissmann spielt American Football, seit diesem Jahr sogar in der Ersten Bundesliga. „Hier konnte ich immer beides machen, Schule und Sport“, sagt er, „auf einem Gymnasium hätte ich mich entscheiden müssen.“
Inzwischen ist die Pause vorbei, in der zweiten Erdkunde-Stunde der 9.5 steht die Auswertung der China-Präsentation an. Wie war der Vortrag, wie die Plakate?, fragt Gabriele Rissmann. Hat etwas gefehlt? „Steffen hat wenig geredet“, sagt einer der Jungen. „Aber er hat sich der Herausforderung gestellt“, entgegnet die Lehrerin, „und er hat mitgehalten.“ – „Hongkong wäre noch interessant gewesen“, findet ein Mädchen, ein anderes hat die chinesische Mauer, ein drittes die Frage der Religion vermisst. Die drei Dinge soll nun jeder Schüler bis zur nächsten Woche klären. „Zu jedem der drei Begriffe mindestens sechs Sätze“, sagt Rissmann. „Selbst formuliert, nicht abgeschrieben.“ An einer solchen Übertragungsleistung sind in der Pisa-Studie viele deutsche Schüler gescheitert. Vielleicht liegt ja wirklich ein Stückchen Finnland im beschaulichen Britz.
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