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Die große Krise vor den großen Ferien

Morgen werden in den Schulen Zeugnisse verteilt. Sie entscheiden über Versetzung oder Sitzenbleiben. Psychologen empfehlen, im Zweifelsfall Beratung einzuholen. Kostenlose Telefon-Hotlines bieten Tipps für Kids und Eltern

In zwei Tagen ist es so weit. Für Berliner Schüler fangen die lang ersehnten Sommerferien an. Ein Anlass zur Freude, aber auch ein Grund für bedrückte und ängstliche Stimmung in den Schulhöfen. Denn vorher gibt es Zeugnisse. „Zehn Schüler aus meiner neunten Klasse bleiben wahrscheinlich in diesem Jahr sitzen, und ich mache mir ebenfalls große Sorgen um mein Schulzeugnis“, berichtet Victoria W., Schülerin einer Realschule in Köpenick, bei einem Treffen zum Thema „Schulzeugnisse – Krisen und Krisenbewältigung.“ Geladen hatte der Deutsche Psychotherapeutenverband weitere Psychologieexperten und Schulvertreter. Denn besonders jetzt ist die Hilfe nötiger denn je.

„Die schlimmste Zeit für die meisten Schüler sind die letzten zwei bis drei Wochen vor den Ferien“, sagt Ric Fekete, Schülersprecher der Sophie-Scholl-Schule. Spätestens dann weiß jeder, welches Zeugniss ihn erwartet. Angst vor den Eltern, vor der Zukunft, vor dem peinlichen Sitzenbleiben ist die Folge.

„Die Wut und Aggressivität bei Schülern steigen besonders in dieser Zeit enorm. Einige versuchen, die Zensuren noch schnell zu verbessern, die anderen suchen die Schuld bei den Lehrern oder versuchen, mit einem einfachen ‚Na und?‘ ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit zu verdrängen“, weiß Studienrätin Sabine Berloge vom therapeutischen Stützpunkt der Uckermark-Grundschule. Gerade vor den Ferien brauchten die leistungsschwachen Schüler besondere psychologische Beratung und Betreuung.

Besonders schwer haben es Migrantenkinder mit geringen Deutschkenntnissen. Für sie stehen kaum muttersprachige Helfer und Berater zur Verfügung. Auf Dauer mit ihren Ängsten und Verzweiflung allein gelassen, verlieren sie Mut und Selbstvertrauen, mit ihren Problemen fertig zu werden, sie isolieren sich. „Jedes fünfte bis sechste Kind in Berlin ist behandlungsbedürftig. Im Jahr 2002 haben 16 Berliner Jugendliche Selbstmord begangen. Zehnmal so viele sind suizidgefährdet. Die meisten davon Jungs“, berichtet Gerd Storchmann, Leiter des Neuhland Vereins, der suizidgefährdeten Kindern und Jugendlichen hilft. „Natürlich sind die schwachen schulischen Leistungen nicht der einzige Anlass für eine Krise, sie tragen aber zur Entstehung enorm bei.“

Eltern seien bei der Vorbeugung gegen solche Krisen besonders gefordert. Fachleute des Instituts für Sozialdienste wenden sich per Flugblatt unter www.ifs-beratung.vol.at im Internet mit Tipps an die Eltern, deren Kinder schlechte Zeugnisse haben: „Vielleicht gehen Sie miteinander etwas essen oder trinken und beraten dann gemeinsam, was nun zu tun ist …“ Zudem wird betont, dass die in besonderen Fällen empfohlene Psychotherapie keine Strafe für die Kinder, sondern eine effektive Möglichkeit der Hilfe ist – etwa wenn ein Kind öfters niedergeschlagen oder sonst irgendwie verstört wirke. Gebührenfreie Telefonberatungen bietet die „Nummer gegen Kummer“, (08 00) 1 11 03 33. Das „Elterntelefon“ ist unter (08 00) 1 11 05 50 erreichbar.

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