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Mein lieber Junge

Tinus sagt, er habe lange gebraucht, um endlich „zu sehen und zu sagen, wer ich eigentlich bin“. Nämlich ein Mann, der nur Nichterwachsene lieben kann. Eine Erkundungsreise in das ganz und gar Unmögliche – das trotzdem wenigstens Gehör finden will

von CORNELIA KURTH

Der Ring an seiner Hand fällt auf. Er ist breit, weil es ein Siegelring ist, und für einen Siegelring wieder ungewöhnlich zierlich, wohl weil sein Gegenstück einst für ein Kind bestimmt war. Tinus, der den Ring trägt, ist Goldschmied. Und Diplomtheologe. Und pädophil.

„Was hast du mit einem Pädophilen zu tun? Ihr diskutiert? Aber wie kannst du das – du hast doch selbst ein Kind!“

Ich war es, die Tinus gesucht hatte. Nicht ihn direkt, aber jemanden, der sich auskennt mit dem Thema Pädophilie und nicht sofort alle Henkerbeile schwingen würde. Ich wollte einen Freund von mir verstehen, der mir in seinen Briefen hemmungslos von zwölf- und vierzehnjährigen Jungs erzählte, die er übers Internet kennen lernte und von denen er so ausschweifend und bedenkenlos schwärmte, dass wir uns bald restlos zerstritten. „Ey, Mann, du kapierst nichts, nichts“, schrieb er zum Schluss, ein intellektuell anmutender fünfzigjähriger Mann.

Der hat sie doch nicht mehr alle! Wegen dem fängst du an, mit Pädophilen zu diskutieren? Etwa über Pädophilie?

Ja. Was ist Pädophilie? Wie ist es möglich, dass ein Erwachsener, der selbst Kinder hat und zufällig noch ein Meister in Sachen Moralphilosophie ist, wie kann er fraglos der Meinung sein, er habe das Recht, einem dreizehnjährigen Jungen seine Liebe anzutragen?

Tinus, sechzig Jahre alt, schmal und unauffällig bis auf diesen Ring und seine großen, braunen Vogelaugen, er lebt in der Schweiz und ist dort Mitarbeiter im Beratungsteam der informativen Website www.arcados.ch, die sofort im Suchregister erscheint, wenn man das Stichwort „Pädophilie“ eingibt, Tinus sagt: „Auch Pädophile verlieben sich. Sie können sich gegen die Liebe nicht anders wehren als alle Menschen.“

Hör auf, Cornelia, ich will das gar nicht hören. Ich will auch nicht hören, wenn ein Vergewaltiger sagt, er kann eben nicht anders.

Monatelang haben wir E-Mails getauscht, dieser Tinus und ich, freundlich, sachlich, ehrlich und ungetrübt durch eine persönliche Beziehung, fast so, wie Philosoph Jürgen Habermas es für den herrschaftsfreien Diskurs fordert, in dem nichts anderes gelten soll als „der zwanglose Zwang des besseren Argumentes“. Natürlich hatte ich die besseren Argumente.

Ja, hattest du? Da bin ich aber froh! Ich dachte schon, ein Pädophiler könnte dich davon überzeugen, dass es gut wäre, wenn er deinem Kind mal ein bisschen was über Sex beibringt. Ich dachte schon, du wolltest mich jetzt darüber aufklären, dass Kinder in Wirklichkeit die sexuelle Nähe zu Erwachsenen suchen. Mit Pädophilen kann man nicht diskutieren. Schon indem du ihre Argumente ernst nimmst, gehst du zu weit!

Tinus schrieb, Pädophilie sei eine ähnlich unausweichliche Neigung wie Hetero- oder Homosexualität, nicht wegzudiskutieren, nicht wegzutherapieren. Er schrieb, den „echten“, den „strukturellen“ Pädophilen gehe es nicht um genitale Sexualität mit dem Kind. Das Kind sei kein Ersatzobjekt für einen Erwachsenen, an den man sich nicht rantraue, sondern erste und einzige Liebe. Den Pädophilen bleibe gar nichts anderes übrig, als nach einem Kind zu suchen, dem die Liebe eines Erwachsenen etwas zu geben habe. Und – es gebe diese Kinder.

Die Schwächsten der Schwachen. Solche, die sich nicht wehren können, weil sie so ungeliebt sind, dass sie selbst mit der perversen Liebe eines Pädophilen vorlieb nehmen. Die sich mit Geschenken locken lassen oder einfach sprachlos sind, wenn angebliche Freundschaft plötzlich etwas ganz anderes will!

Das Schwierigste sei, schrieb er, die Gesellschaft begreife nicht, dass es auch Pädophilen um Liebe gehe. Nicht um Vergewaltigung und Nötigung, sondern um eine Liebesbeziehung.

Aber das läuft doch aufs Gleiche hinaus! Die Pädophilen brauchen Kinder. Aber kein Kind braucht einen Pädophilen!

Da bin ich mir nicht mehr sicher.

Du spinnst!

Ich bin mir nicht mehr sicher, dass es unbedingt und immer ein Verbrechen ist, wenn ein Pädophiler ein Kind liebt.

Weil ich etwas in der Schweiz zu erledigen hatte, schlug ich Tinus ein Treffen vor. Er hatte nicht gewusst, dass ich Journalistin bin, ich nicht gedacht, dass er Ja sagen würde, aber er tat es sofort. Wir fanden ein Café, in dem keine Neugierigen lauschen konnten.

„Es ist ein schwieriges Leben, das ich führe“, sagt er. „Und ich weiß: Daran wird sich nichts ändern. Daran kann sich nichts ändern.“ Es ist ein Leben, in dem viel und leidenschaftlich von Liebe die Rede ist. Und von Liebeskummer. Von Beziehungen zu jungen, in ihrer seelischen Entwicklung zurückgebliebenen Männern, in denen sich etwas von der ersehnten Beziehung zu einem Kind widerspiegeln konnte. Und von Sex, den er, der sich lange für ganz normal schwul hielt, in der Schwulenszene suchte, wo er seine Partner um Verständnis dafür bat, dass er nicht offen war für alle gängigen Praktiken.

Es gab nur eine ausgelebte Liebesbeziehung zu einem Kind in seinem Leben, da war er selbst schon über vierzig Jahre alt. Aber auf diese Beziehung steuerte sein ganzes vorheriges Leben zu. „Wenn ich mit zwölf gewusst hätte, dass es Pädophilie gibt, dann hätte ich damals schon sagen können: Ich bin pädophil.“ Er redet nicht über verpasste Möglichkeiten. Er redet davon, dass er keine Wahl hatte. Der auffällige Ring an seiner Hand ist dafür ein Symbol. Er hat ihn selbst während seiner Goldschmiedelehre geschmiedet, ebenso wie einen Zwillingsring, den er vor über vier Jahrzehnten einem Nachbarsjungen schenkte, zur Erinnerung an eine Zeit heftigster Liebessehnsucht, von deren Ausmaß der Junge keine Ahnung hatte.

Immer hatte er Kinder, Jungs, in seiner Nähe, und immer war er in einen dieser Jungs verliebt. Winzige Anzeichen, über deren Alltäglichkeit man lachen könnte, sind ihm Beweis dafür, dass auch diese Kinder ihn zärtlich liebten, zärtlich geliebt hätten. Dass die Kinder ihn sehr mochten, ist kein Wunder. Denn diese Jungs kamen aus Familien, in denen sie wenig geliebt und meistens beiseite geschoben wurden. Sie genossen es, einen sanften großen Freund zu haben, der sie verwöhnte, ihnen zuhörte, ihnen bei Schwierigkeiten weiterhalf und sein Haus so zur Verfügung stellte, wie es sonst nur erwachsene Freunde untereinander tun.

Ich wusste, dass es darauf hinauslaufen würde: Die Pädophilen als uneigennützige Kinderfreunde, eine inoffizielle Schar von Sozialarbeitern, die von Gott geschaffen wurden, damit sich jemand um die verlorenen Kinder kümmert. Und dann holen sie sich heimlich einen runter. Oder auch nicht so heimlich. Denn erzähl mir nicht, dass sie irgendwann nicht ihre Rechnung aufmachen!

Tinus war eine Art inoffizieller Sozialarbeiter. Die große Liebe, die sein Selbstbild veränderte und zu seinem Coming-out als Pädophiler führte, begann wie so viele andere Verliebtheiten vorher. Ein zehnjähriger, fast autistisch verschlossener Junge aus dem nahen Kinderheim fasste Vertrauen zu dem Goldschmied, und es ergab sich, dass der Junge, inzwischen Internatsschüler, in Tinus einen Vormund fand, nicht auf dem Papier, aber doch auch in den Augen der Schulleitung, der Mutter, der Behörden. An den Wochenenden und in den Ferien wohnte der Junge bei ihm.

Damals begann Tinus sein Theologiestudium, katholische Theologie, „ich lebte ja sowieso wie im Zölibat“, eine aus innerer Not geborene Idee, der trotzige Versuch, die in der Bibel so bedeutsame Liebe zu den Kindern herauszuarbeiten und darin eine Rechtfertigung der eigenen Liebe zu erkennen. Er war verzweifelt, weil er den Jungen begehrte und gleichzeitig seine schwulen Freunde beschwor, dass sie ihre und seine Homosexualität vor ihm geheim halten sollten. „Ich wollte nur sein Vater sein. Ich wollte, dass mein Junge ganz normal wird.“ Er hatte panische Angst, der Junge könnte sich nicht in eine Frau, sondern in einen anderen Mann verlieben.

Da hast du deinen „Sozialarbeiter“!

Als der Junge fünfzehn Jahre alt war, fragte er seinen „Vater“, so erzählt es Tinus, ob er vielleicht schwul sei. Tinus redete sich verlegen raus. „Wie schade!“, habe der Junge gesagt. „Ich weiß, dass ich schwul bin, und ich dachte, du könntest mir zeigen, wie das geht.“

„Er hat mich verführt! Ich konnte nichts dagegen machen! Ich selbst wollte es ja gar nicht!“ Mensch, merkst du denn nicht, wie verblendet das ist? Die typische Ausrede aller, die ein Vertrauensverhältnis missbrauchen.

Nach diesem Gespräch schliefen Tinus und der Junge zusammen. Sie wurden ein Liebespaar. Und es war gut, sagt Tinus. „Wir waren beide glücklich.“ Bis der Junge sich nach zwei Jahren neu verliebte und kühl und abweisend wurde. Depressiv und kurz davor, sich einfach umzubringen, schlug Tinus auf einer Schwulentagung vor, eine Arbeitsgruppe mit dem Titel „Mein Freund ist dreißig Jahre jünger als ich“ zu bilden. Und bekam die Auskunft, dass es schon eine Pädogruppe gebe und außerdem eine Selbsthilfeadresse. „Ich pädophil? Ein Monster, zugehörig dem sexuellen Lumpenproletariat, fähig zu gemeinsten Schandtaten? Nein!“

Drei Monate brauchte er, um sich zu überwinden, Kontakt zu der Selbsthilfegruppe aufzunehmen. „Und das hat mir mein Leben zurückgegeben! Zu sehen und zu sagen, wer ich eigentlich bin.“

Ich. Ich. Ich. Sag jetzt noch, dass der Junge ein psychisch gesunder Mensch und außerdem Professor geworden ist.

In Tinus’ Augen ist er der Beweis dafür, dass eine Liebesgeschichte mit einer so „unmöglichen“ Konstellation auch gut ausgehen kann, dass es auch solche Kinder gibt, die Pädophile brauchen. Stolz erzählt er von der Computerspezialistenkarriere seines inzwischen 32-jährigen „Jungen“, dem die Kinderheimakten bestenfalls eine einfache Arbeit in einer beschützenden Werkstatt zugetraut hatten.

Nun heimste er kürzlich einen begehrten Branchenpreis ein, lebt seit Jahren mit einem gleichaltrigen Freund zusammen und zieht seinen ehemaligen „Vater“ immer noch damit auf, dass dieser seine Neigung so lange vor ihm verheimlicht hatte. „Wir hätten doch viel früher damit anfängen können“, habe er gesagt, „du hast mir zwei Jahre meiner Jugend geraubt, du Dummkopf!“

Ein schönes Märchen! Und was weiter? Soll dein Tinus jetzt als Vorkämpfer gelten für eine Gesellschaft, in der das Schutzalter für Kinder abgeschafft wird und ebenso das Verbot von sexuellen Beziehungen mit Abhängigen?

„Das Problem ist unlösbar, ich weiß“, sagt er. „Das war mein Junge und meine Geschichte. Ich erwarte nicht, dass die Gesellschaft Pädophilie akzeptiert. Aber ich erwarte, dass sie akzeptiert: Es handelt sich dabei um Menschen.“

CORNELIA KURTH, Jahrgang 1960, taz.mag-Autorin seit 1998, lebt in Rinteln

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