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„Ich musste nie ein Held sein“

Volker Beck macht aus seinem Schwulsein keinen Hehl. Er findet diese Offenheit völlig normal – obwohl er noch vor fünfzehn Jahren im Bundestag dafür verunglimpft wurde. Der grüne Spitzenmann spricht im taz.mag-Interview über die „Lindenstraße“, über Homosexuelle in der Politik und den Spaß, der den Grünen verloren gegangen scheint

Interview JAN FEDDERSEN und JENS KÖNIG

taz: Können Schwule aggressiv sein?

Volker Beck: Warum nicht? Ich jedenfalls kann es. In manchen Situationen muss ich vergessen, dass ich eine gutbürgerliche Erziehung genossen habe.

Wann ist das so?

In so mancher Verhandlungsrunde. Auch in Koalitionsrunden kann es schon mal sehr laut zugehen. Wenn man seine Position dann nicht in der gleichen Lautstärke verteidigt, ist man gleich psychologisch in der Defensive. Wer etwas durchsetzen will, muss sich auf die Kampfmethoden seiner politischen Kontrahenten einstellen können. Nicht immer hat man die Wahl der Waffen. Das musste ich erst lernen.

Leiden Sie darunter, dass man bei Ihnen als Politiker eine Aggressivität nur deshalb bemerkt, weil Sie schwul sind? Oder müssen Schwule aggressiver als andere sein?

Ich weiß nicht, ob Schwule aggressiver sein müssen. Ich glaube, dass für alle das Gleiche gilt: Wer in der Politik etwas werden will, braucht ein Mindestmaß an Durchsetzungskraft.

Aber wie kommt es dann, dass man ausgerechnet Ihnen, dem einzigen offen schwulen Spitzenpolitiker bei den Grünen, vorwirft, Ihnen mangele es an Aggressivität? Fritz Kuhn, Ihr Parteichef, hat sich diesen Vorwurf noch nie anhören müssen.

Es gibt schlimmere Vorwürfe als den, nicht ständig aggressiv zu sein. Einige Machtfragen wie etwa Personalentscheidungen fallen bei den Grünen mitunter immer noch in den Boys-Clubs der jeweiligen Parteiströmungen. Das sind halt Heterojungs, die miteinander rangeln. Frauen dürfen da nicht wirklich mitspielen und schwule Männer auch nicht. Das würde den ganzen Gruppenmechanismus solcher Männerbünde in Frage stellen.

Und was ist der andere Grund für Ihre vermeintliche Friedfertigkeit?

Ich habe immer darauf geachtet, mich solidarisch zum grünen Gesamtprojekt zu verhalten. Ich profiliere mich nicht auf Kosten der Mehrheit meiner Parteifreunde, ich greife auch öffentlich niemanden aus den eigenen Reihen scharf an. Mir ist das grüne Projekt wichtiger als die persönliche Konkurrenz.

Jetzt werden sich die grünen Heteromänner auf die Schenkel klopfen.

Ja, ja, mancher wird jetzt vielleicht sagen: Aha, da zeigen sich die weiblichen Anteile beim schwulen Beck. Ich glaube eher, mein Stil ist das Ergebnis politischer Lernprozesse innerhalb der Grünen. Es gibt schließlich viele Leute in meiner Fraktion, die ähnlich ticken.

Aber auch bei den Grünen ist die Politik männlich geprägt. In diesem Punkt unterscheidet sich Ihre Partei nicht von CDU oder FDP.

Immerhin: Über die Hälfte unserer Bundestagsfraktion sind Frauen. Wir haben aller männlich dominierten Strömungslogik zum Trotz einen strukturellen Vorteil gegenüber allen anderen Parteien: Die Grünen haben ein Statut, mit dem die starke Präsenz von Frauen erzwungen werden kann.

Jetzt im Wahlkampf entdeckt sogar so ein Politmacho wie Gerhard Schröder die weiche Seite in sich. Plötzlich lobt er die Homoehe landauf, landab als grün-rote Errungenschaft.

Das ist doch ein schöner Fortschritt! Ich kann mich noch gut an den Sommer 2000 erinnern. Da haben sie im Kanzleramt alle im Keller gesessen und gewartet, ob ich da draußen mit „meinem“ Lebenspartnerschaftsgesetz baden gehe oder nicht. Alle hatten sie Angst vor einem Volksaufstand. Stattdessen sind die Umfragewerte für die Homoehe nach oben geschnellt. Dass der Kanzler das Gesetz mittlerweile als einen Erfolg seiner Koalition verkauft, tut dem Thema nur gut.

Dieser Gesinnungswandel ist doch aber das Eingeständnis, dass die Homoehe nicht unbedingt eine Herzensangelegenheit der Regierung war.

Für die Grünen war und ist es ein Herzensanliegen. Für Schröder nicht. Es ist aber auch nicht so, dass er mit Ressentiments gegen Lesben und Schwule beladen wäre. Er hat früher als Anwalt in Niedersachsen schwule Pfarrer gegen die Landeskirche vertreten.

Aber der Kanzler ist auch ein kühler Stratege.

Ja, er würde nie wegen der Homoehe ein paar Stimmen bei den Arbeitern im Ruhrgebiet riskieren. Aber die Grünen haben dieses Lebenspartnerschaftsgesetz so überzeugend vermitteln können, dass es große gesellschaftliche Akzeptanz gewonnen hat. Und dann war auch Schröder dafür.

Sie machen schon fünfzehn Jahre Politik – öffentlich präsent als Mann, der seine Homosexualität nicht verheimlicht. Was hat sich in diesen Jahren geändert?

Damals war allein die Tatsache, dass ich schwul bin und offen dazu stand, ein Politikum. Auf meinem Anrufbeantworter meldete ich mich mit „Hier ist das Schwulenreferat der grünen Bundestagsfraktion“ – damals ein Skandal.

Die Bundestagsverwaltung hat deswegen Ihr Telefon abgeschaltet.

Ja. Und Abgeordnete von CDU und CSU meldeten sich stöhnend auf dem Anrufbeantworter. In den Achtzigerjahren haben wir uns darüber gestritten, ob die Worte „schwul“ und „lesbisch“ eines Parlaments würdig sind und in offiziellen Drucksachen vorkommen dürfen. Dieser Streit ist heute kulturell so etwas von überholt, dass man meint, das sei fünfzig oder hundert Jahre her.

Heute stöhnt kein Abgeordneter mehr ins Telefon?

Nein. Homosexuelle Lebensweisen sind selbstverständlicher Teil des politischen Alltags geworden. Natürlich haben dazu auch Fernsehsendungen wie die „Lindenstraße“ beigetragen.

Inwiefern?

Weil es dort den ersten homosexuellen Fernsehkuss vor 23 Uhr gab. Erst da hat sich Lieschen Müller das erste Mal mit dem Thema auseinander gesetzt. Dieser Kuss hat vielleicht mehr erreicht als so manche Homodemo zum CSD. Dieser Prozess hat überhaupt erst ermöglicht, dass die Gesellschaft nüchterner über bürgerrechtliche Anliegen von Homosexuellen reden kann.

Ist diese kulturelle Wende das Wesentliche der vergangenen Jahre?

In der Tat. Heute sagt ein großer Teil der Bevölkerung, dass Homosexualität genauso viel Anspruch auf Respekt hat wie Heterosexualität. Ohne diese Einsicht wäre eine Debatte über die Gleichstellung der Partnerschaftsformen gar nicht möglich gewesen.

Und jetzt kann Klaus Wowereit öffentlich sagen, dass er schwul ist, und er wird trotzdem Regierender Bürgermeister von Berlin. Ist das der Höhepunkt dieser Entwicklung?

Nein. Am Tag, als Wowereit seiner Homosexualität den Ruch des Heimlichen nahm, musste ich zum Thema „Schwule in der Politik“ ein Interview nach dem anderen geben. Erst wenn das nicht mehr passiert, wenn ein Spitzenpolitiker oder eine Topmanagerin sagt, dass er schwul bzw. sie lesbisch ist, und ich deswegen keine Interviews mehr geben muss, dann ist Normalität eingekehrt.

Diese Normalität gibt’s noch nicht?

Die anfänglich riesige Aufregung um Wowereit zeigt doch, dass es nicht normal ist, wenn ein Spitzenpolitiker schwul ist. Die meisten leben ja nicht offen. Also, wenn ich mir den Bundestag anschaue, wie viele homosexuelle Kollegen es da gibt, von denen es die wenigsten sagen …

Haben Sie Verständnis dafür?

Eigentlich nicht. Ich musste nie ein Held sein, um mein Schwulsein nicht zu verstecken. Heute gilt das erst recht.

Aber Sie werden immer noch wie ein bunter Vogel zum Stand der Homosexualität in der Politik befragt.

In der Tat, wie in diesem Interview …

Da ergeht es Ihnen wie den Rollstuhlfahrern oder den Ostdeutschen. Alles eine Frage der Minderheit.

Ich hoffe, ich trage dieses schwere Schicksal mit Würde.

Warum fällt es auch jungen Bundestagsabgeordneten heute noch schwer, zu ihrer Homosexualität zu stehen?

Einige haben schlichtweg Angst, dass der politische Gegner das gegen sie verwenden könnte. Das trifft besonders auf Abgeordnete zu, die ihren Wahlkreis in der Provinz haben. Andere glauben wohl, dass sie als schwule oder lesbische Politiker viel seriöser und akribischer sein müssen als alle anderen. Und das stimmt leider auch.

Ist der Bundestag also nach wie vor schwulen- und lesbenfeindlich? Oder haben die Abgeordneten selbst nur ein Problem mit ihrer Offenheit?

Der Bundestag ist genauso schwulen- und lesbenfeindlich oder homofreundlich wie andere Bereiche der Gesellschaft auch. Bei großen Versicherungsunternehmen wird man als Schwuler ja auch nicht Generaldirektor, sondern allenfalls Abteilungsleiter.

Sie haben es geschafft, aus der Homoecke herauszukommen. Mittlerweile erkennt man Sie als Fachpolitiker für Innen- und Rechtspolitik an.

Dafür habe ich jahrelang gekämpft. Jetzt ist es eine große Genugtuung für mich. Wenn ich ins Innenministerium komme, sagt keiner mehr: Ah, da kommt der schwule Beck. Die erkennen meine Leistung als harter Verhandler für die Grünen an.

Dafür wird Ihnen von Teilen der Szene vorgeworfen, die Homofrage domestiziert zu haben im Sinne einer krassen Normalisierung, um nicht zu sagen, einer Heteroanpassung.

Niemand soll sich anmaßen, die selbst gewählten Lebensstile anderer Leute zu bewerten. Ich bin für Wahlfreiheit. Freiheit für Homosexuelle kann heißen, beim CSD in Frauenkleidern auf der Straße rumzuspazieren, kann aber genauso heißen, sich für ein Leben mit Bausparvertrag und Einbauküche zu entscheiden. Nicht wenige verbinden auch beide Welten.

Sie haben mit Ihrem hartnäckigen Verhandeln, etwa beim Zuwanderungsgesetz, dazu beigetragen, dass die Grünen in der Regierung ureigene Interessen durchgesetzt haben. Andererseits wird Ihrer Partei immer wieder vorgehalten, ihre Ideale zu verraten. Finden Sie diese Kritik gerecht?

Natürlich nicht. Ökosteuer, Atomausstieg, eingetragene Lebenspartnerschaft, Zuwanderung, erneuerbare Energien – die Grünen haben seit 1998 viel zuwege gebracht. Man muss aber auch immer berücksichtigen, dass wir eine 6,7-Prozent-Partei sind. Projekte, an denen wir zwanzig Jahre lang aus der Perspektive einer Oppositionspartei gearbeitet haben, können wir nicht in vier Jahren eins zu eins umsetzen.

Die Grünen haben womöglich unterschätzt, dass man für gesellschaftliche Reformen gerade in einem konservativen Volk wie dem deutschen sehr nachhaltig werben muss.

Da hat die Koalition in der Tat Fehler gemacht. Auf diese Weise wurde die Diskussion über das neue Staatsbürgerschaftsrecht anfänglich vergeigt – und Roland Koch der hessische Ministerpräsidentenposten ermöglicht. Da glaubten einige in der Regierung, erst könne man das Gesetz machen und später bleibe noch Zeit zum Erklären.

Was lief denn beim Projekt zur Homoehe besser?

Dort haben wir Schritt für Schritt – vor und während des Verhandlungsprozesses – deutlich gemacht, wofür das Gesetz gut sein soll, welche Philosophie dahinter steckt, warum niemand davor Angst haben muss und wem es nützt. Fast alle Gesellschaften haben eine Tendenz ins Konservative. Deswegen muss man eine Reformpolitik gerade bei kontroversen Themen gut vorbereiten.

Vor lauter Reformen laufen die Grünen schon ganz zerknirscht durchs Leben. Hat die Partei nach der Regierungsbeteiligung den Spaß an der Politik verloren?

Wenn ich früh um fünf aus dem Innenministerium komme und grüne Interessen gegen Schily verteidigt habe, dann bin ich ganz fröhlich. Dann hat mir jede dieser vielen Verhandlungsstunden Spaß gemacht. Aber richtig ist auch, dass einige im grünen Umfeld glauben, schlechte Laune sei schon ein Ausweis intellektueller Redlichkeit. Dass es das Wichtigste sei, nicht über die eigenen Erfolge, sondern über die eigenen Niederlagen zu reden.

Diese negative Haltung zählt zum linken Traditionsbestand: Es gäbe kein richtiges Leben im falschen.

Das wirkt noch nach. Schon eigentümlich angesichts der breiten gesellschaftlichen und individuellen Emanzipation, die die antiautoritäre Linke hierzulande bewirkt hat. Dennoch ist manchmal eine gewisse Miesepetrigkeit nicht zu übersehen.

Gilt das immer noch?

Es hat sich eine Menge getan. In Köln, im größten Grünen-Kreisverband der Republik, stehen die jüngeren Mitglieder zu ihren Idealen, aber sie können mit dieser selbstquälerischen Haltung – dass man alles kleinredet, was man eigentlich als Erfolg verbuchen könnte – nichts mehr anfangen. Die wollen jetzt Wahlkampf machen, ein gutes Ergebnis einfahren und angefangene Projekte fortsetzen. Für sie ist es nicht mehr höchster politischer Daseinszweck, intellektuell unschuldig zu bleiben und keinen neuen Gedanken reinzulassen.

Das wäre ein Bruch mit der linken Gepflogenheit, Reformen stets als unzureichend zu erleiden. Aber Linke wird es ja in der neuen Bundestagsfraktion nicht mehr viele geben.

Ich bin auch einer. Und es gibt Politikerinnen wie Irmingard Schewe-Gerigk, eine linke Feministin, in der Fraktion oder Claudia Roth und Kerstin Müller, hoffentlich auch wieder Christian Ströbele. Aber die Gruppe der unbedingten Pazifisten wird gewiss kleiner.

Die Realos haben die Fundis komplett verdrängt.

Die Pazifismusdebatte möchte ich ungern als Realo-Fundi-Diskurs führen. Ich habe im Bundestag für den Afghanistankrieg gestimmt – nicht etwa aus Koalitionsräson, sondern weil diese Form des Kampfes gegen den Terror für mich eine Handlungsoption war. Mit Terrororganisationen wie al-Qaida kann man nicht verhandeln. Wenn man deren Struktur nicht zerschlägt, dann machen die weiter.

Mit dieser Aussage wären Sie vor 22 Jahren beim Gründungsparteitag der Grünen rausgeflogen.

Die damalige Weltlage lässt sich doch nicht mit heute vergleichen. Damals gab es einen hochgerüsteten Ost-West-Konflikt. Beide Seiten achteten peinlich darauf, dass beim Gleichgewicht des Schreckens keine Seite falsch reagiert. Ein technischer Fehler oder Nenas „99 Luftballons“ hätten zu einem Weltkrieg führen können. Heute haben wir eine andere Situation, mit Bedrohungen aus terroristischen Gruppen, die nicht einzubinden sind, von keinem Imperium kontrolliert werden und kleine Länder als Ausgangsbasis nutzen.

Die Grünen als Verteidiger der Staatsräson. Das hat zur Folge, dass die Partei heute nur mühsam begreift, warum sich ein Antiglobalisierungsbündnis wie Attac überhaupt gegründet hat. Wäre es nicht klug gewesen, diese neue politische Bewegung einzubinden?

Auseinandersetzung und Zusammenarbeit: ja. Einbinden im Sinne von Anbiedern: nein.

Und was machen Sie jetzt – Attac belehren?

Um Gottes willen, das ausdrücklich nicht. Aber wir müssen im Wahlkampf für unsere Konzepte streiten, mit der Antiglobalisierungsbewegung stärker ins Gespräch kommen und sagen, dass die Grünen, wenn sie wieder regieren können, noch viel zu tun haben: Von der Tobin-Steuer bis zur Klimapolitik.

Jetzt reden Sie wie ein Sozialdemokrat Ende der Siebzigerjahre – einer, der fassungslos war angesichts all der grün-bunten Wahlerfolge und glaubte: Na, da müssen wir wohl mit den jungen Leuten in den Dialog treten.

Wir sehen bei Attac vieles, was uns verbindet, aber auch manches, was uns unterscheidet. Es ist doch ganz normal, wenn solche Unterschiede auch in einer eigenen Organisation zum Ausdruck kommen. In dieser Situation haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir sagen, das sind Irre, mit denen wollen wir nichts zu tun haben – wie die SPD damals gegenüber den Grünen. Oder wir sagen, die haben zum Teil Recht. Manches an Attac scheint mir etwas unterkomplex. Trotzdem: Das Anliegen ist wichtig.

Und die Grünen wollen dem Protest die Spitze nehmen?

Nein, wir wollen ihn so aufgreifen, dass dabei Konzepte herauskommen, wie soziale und ökologische Standards überall auf der Welt gesetzt werden, angefangen in unserem Land. Die Grünen haben die Aufgabe, ebendiesen Protest auch auf den entsprechenden Machtebenen zu Gehör zu bringen. Das ist ja immer das Problem linken Protests gewesen: dass er nie wusste, wie man Opposition in der realen Welt operationalisierbar macht. Diese Debatte dürfen wir Attac nicht ersparen.

Attac verkörpert genau jenes Protestgefühl, das die Grünen schon lange nicht mehr verströmen.

Wo liegt das Problem? Politische Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit, aber sie ersetzen sie nicht. Die Grünen sind nicht dazu da, jedes Thema selbst zu erfinden, um daraus eine Kampagne zu machen.

Die Antiglobalisierungsbewegung wirft Ihrer Partei aber Versagen bei urgrünen Themen vor, beispielsweise in der Entwicklungspolitik.

Ich freue mich sehr, dass endlich wieder gesellschaftlicher Druck aufkommt. Die Spaßgesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren immer weniger um die Probleme der armen Länder geschert. Das war nicht hip. Eine solche Stimmung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Entscheidungen in Bundestag und Kabinett. Entsprechend wenig konnte im Verteilungskampf der Ressorts auf Bundesebene für die Entwicklungshilfe rausgeholt werden. Es wird Zeit, dass sich das ändert.

Joschka Fischer hat noch im vorigen Jahr auf dem G-8-Gipfel in Genua den jungen Leuten gesagt: Ihr müsst doch nicht demonstrieren – wir vertreten doch eure Interessen.

Das empfand ich auch eher als eine raumschiffmäßige Äußerung.

Und es klang ebenso gönnerhaft wie Helmut Schmidt gegenüber den Grünen Ende der Siebzigerjahre.

Ein großer Unterschied: Wir kümmern uns in der Tat längst um die Folgen der Globalisierung. Wir fordern seit langem Schuldenerlass für die Dritte Welt, haben auch einiges erreicht, und nicht einmal die taz hat darüber ausführlich berichtet.

Die Grünen haben der Union zur Wahl Edmund Stoibers gratuliert – weil CDU und CSU damit den Grünen etwas von ihrem Selbsthass genommen haben?

Jedenfalls hat die Kandidatur Stoibers einiges zurechtgerückt.

Was?

Dass es gegenläufige Interessen in diesem Land gibt und nichts selbstverständlich ist. Manche unserer Kritiker tun ja so, als wären der Atomausstieg, die Homoehe, das Zuwanderungsrecht alles Selbstläufer gewesen. So ein Unsinn. Schon in der Koalition musste um jeden Zentimeter gekämpft werden. Und diese Erfolge muss man verteidigen. Bei vielen Themen fahren Stoiber und Co. einen Generalangriff gegen rot-grüne Projekte. Wir Grüne sind die Garanten, dass es kein Rollback gibt.

Dennoch glauben selbst viele Grüne nicht mehr an eine Fortsetzung der Koalition mit der SPD.

Abwarten. Es kann sich noch viel bewegen. Die FDP ist angeschlagen und schlingert auf der Möllewelle. Die Leute merken zudem langsam, wie unseriös Stoiber und sein Team argumentieren. Das ist doch alles nicht zu finanzieren – Steuersenkung und Mehrausgaben für Rüstung, Straßenbau und so weiter. Darüber hinaus will er vieles von dem zurückschrauben, was Rot-Grün nach sechzehn Kohl-Jahren erst aus dem Reformstau lösen musste.

Wenn Stoiber die Grünen als Regierungspartei nicht rettet – wer dann?

Nur wir selbst.

JAN FEDDERSEN, 44, ist taz.mag-Redakteur; JENS KÖNIG, 38, leitet das taz-Parlamentsbüro

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