: Natürliches Transportbedürfnis
taz-Serie „Rot-grüne Bilanzen“: Wer von der Verkehrspolitik ein Umsteuern erwartet hatte, ist herbe enttäuscht. Nur hier und da lassen sich kleine Novitäten ausmachen
„Mobilität ist ein Grundbedürfnis des Menschen“ und „bedeutet für die meisten Bürger Freiheit und Lebensqualität“. Mit solchen Floskeln beginnt fast jede Broschüre aus dem Verkehrsministerium. Bedürfnisse – Grundbedürfnisse zumal – müssen befriedigt werden. In dieses sozialdemokratische Credo der Verkehrspolitik konnte der kleine Koalitionspartner nur ein paar grüne Sprengsel einbringen.
Grundlage der Verkehrspolitik von Minister Kurt Bodewig ist der Verkehrsbericht 2000. Das Papier geht von einer fatalistischen Grundannahme aus: Der Gütertransport wird bis zum Jahr 2015 um 64 Prozent zunehmen, und der Personenverkehr steigt um weitere 20 Prozent. Am massiven Zuwachs scheint kein Weg vorbeizuführen – und so bleibt nur die Frage, womit die zusätzlichen Gütermassen und die wachsende Schar der Reisenden transportiert werden sollen.
Erklärtes politisches Ziel ist es, die Verkehrsleistung der Bahn zu verdoppeln. Das ist ein sehr ehrgeiziges Vorhaben angesichts der Entwicklungen der vergangenen Jahre. Doch weil ihr Anteil am Verkehrsgeschehen bisher ausgesprochen gering ist – nur noch 14 Prozent der Güter und weniger als 9 Prozent der Personen reisen per Bahn – würde das nichts daran ändern, dass der Gesamtzuwachs auf den Straßen viel größer ausfällt. Im Klartext: Fast 60 Prozent mehr Brummis werden sich über die Straßen wälzen.
Damit diese „optimistische“ Annahme eintrifft und der Lkw-Verkehr nicht um sogar 80 Prozent zunimmt, hat die Bundesregierung eine Schwerverkehrsabgabe auf Autobahnen beschlossen. Sie soll – mit deutlicher Verspätung – im kommenden Jahr eingeführt werden und stellt im Prinzip ein unzweifelhaft sinnvolles verkehrspolitisches Instrument dar: Wer viel fährt, zahlt mehr. Zwar könnten viele Spediteure auf Landstraßen ausweichen, doch das System ließe sich ohne große Probleme auch dorthin ausdehnen. Eine Straßenbenutzungsgebühr für Pkw steht dagegen nicht zur Debatte – obwohl eine den Verkehrsminister beratende Expertenschar keinen Grund sieht, warum die geplante Maut prinzipiell nur für Lkw erhoben werden soll. Aber solche Vorschläge werden sofort versenkt. Schließlich gibt es fast 45 Millionen Autos im Land, und die alle gehören Leuten, die älter sind als 18 Jahre – Wählern eben.
Immerhin konnten die Grünen zu Anfang der Legislaturperiode die Einführung einer stufenweisen Ökosteuer durchsetzen. Und tatsächlich: Erstmals seit Jahren ging der Autoverkehr in den vergangenen beiden Jahren leicht zurück; der Ausstoß des Klimakillers Kohlendioxid sank. Manche Spritztour fiel ins Wasser, und auch der eine oder andere Pendler entschied sich für den Bus. Zwar gab es dafür auch andere, vermutlich sogar entscheidendere Einflussfaktoren: Die Wirtschaft lahmt, und der Benzinpreis übersprang im Herbst 2000 aufgrund einer vorübergehenden Verknappung des Rohöls auf dem Weltmarkt die Zweimarkmarke. Doch so oder so wird deutlich, dass Verkehrswachstum kein Naturgesetz ist.
Umso ärgerlicher war des Autokanzlers Reaktion auf das Gezeter über hohe Spritpreise: Die Kilometerpauschale, die weite Wege zur Arbeit fördert, wurde noch einmal um einen weiteren Groschen erhöht. Zwar gilt sie jetzt nicht mehr nur für Autonutzer, sondern als Entfernungspauschale auch für Radler und Bahnfahrer – ein Zugeständnis, das die Grünen dem Autokanzler abringen konnten. Doch nun wird die Zersiedelung der Landschaft sogar noch stärker gefördert als unter der Kohl-Regierung, und Finanzminister Eichel fehlen aufgrund der Entscheidung 500 Millionen Euro im Jahr. Sein Vorgänger Theo Waigel hatte noch dafür plädiert, die Pauschale für Autofahrer von damals 70 auf 20 Pfennig zu senken. Dieser aus finanzieller Not geborene Vorschlag hätte umweltpolitisch wesentlich positiver gewirkt als die jetzt geltende Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer.
Auch die Bahn ist unter Rot-Grün nicht auf eine neue Schiene gesetzt worden; ihr Güterverkehrsanteil ist weiter gesunken, und der Personenverkehr dümpelt auf einem Niveau wie 1996. Dabei hatte Kurt Bodewig – nach Franz Müntefering und Reinhard Klimmt immerhin der dritte Verkehrsminister im Kabinett Schröders – mit einer vielversprechenden Ankündigung begonnen. „Die Unabhängigkeit des Netzes ist keine Frage mehr des Ob, sondern eine Frage des Wann und des Wie“, sagte der Sozialdemokrat auf einem Parteitag der Grünen. Nur wenn das Schienennetz aus dem DB-Konzern ausgegliedert werde, hätten Konkurrenten eine realistische Chance, so Bodewigs Einsicht. Dass ein Aufbrechen des Monopols aus verkehrspolitischer Sicht sehr sinnvoll ist, lässt sich in Skandinavien studieren: Dort belebt die Trennung von Netz und Betrieb den Wettbewerb und damit das Geschäft, ohne dass es bisher zu Sicherheitsproblemen wie in Großbritannien gekommen ist. Die Kundschaft goutiert es – und steigt ein.
Kaum hatte Bodewig den Versammlungssaal verlassen, blies ihm ein scharfer Wind ins Gesicht. DB-Chef Hartmut Mehdorn tobte und drohte fast unverblümt mit Rücktritt, sollte das Netz aus seinem Konzern ausgegliedert werden. Auch die Eisenbahnergewerkschaft meldete massiven Protest an. Daraufhin pfiff Kanzler Schröder seinen Verkehrsminister zurück – und setzte Bodewig mit in die entscheidende Arbeitsgruppe. Das Ergebnis war absehbar: Nach der Reform ist vor der Reform – bis auf etwas Kosmetik blieb alles beim Alten.
Eine verkehrspolitische Vision wie zum Beispiel in Schweden, wo das Ziel „null Verkehrstote“ gesetzlich verankert ist, hat Rot-Grün hierzulande nicht entwickelt. Bezüglich der Umwelt wird Verkehrspolitik allenfalls darauf hin betrachtet, was im Einzelfall weniger schadet. Wo die ökologische Belastungsgrenze erreicht oder überschritten wird, interessiert dagegen nicht; Transportbedürfnisse gelten als unhinterfragbar. Zwar soll der kommende Bundesverkehrswegeplan die umweltpolitischen Aspekte stärker gewichten. Doch ob auf diese Weise ökologisch bedenkliche Projekte tatsächlich verhindert werden können, ist zweifelhaft und lässt sich aufgrund der bis nach der Wahl hinausgeschobenen Konkretisierung auch nicht feststellen. Allzu viel Optimismus ist jedenfalls unangebracht: Die Regierung hat an allen bereits angefangenen Verkehrsprojekten festgehalten, auch wenn sie für die Umwelt extrem nachteilig sind und der Bau noch nicht einmal über den ersten Spatenstich hinausgekommen war.
Wie das immense Verkehrswachstum bewältigt werden soll, bleibt im Abgasnebel. Das Einzige, was der Regierung dazu eingefallen ist, sind neue Straßen. 1.100 Autobahnkilometer sollen zum Teil mit Hilfe privater Investoren ausgebaut werden, obwohl sich selbst im Verkehrsministerium mittlerweile herumgesprochen hat, dass neue Asphaltpisten nur neuen Verkehr erzeugen. Doch irgendwie musste das „Anti-Stau-Programm“ ja inhaltlich gefüllt werden. Und ein paar Arbeitsplätze verspricht es auch.
ANNETTE JENSEN
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