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Die Liebe an der Friedhofsmauer

Herz mit Pfeil, Einladung zur Revolte, Zahlungsaufforderung: Graffiti-Leser haben ihr Ohr am Puls der Stadt. Manche Zeichen richten sich dekonstruktivistisch gegen die Intentionen ihrer Erfinder, andere sind mutig wie ein Aufgebot vorm Standesamt

von DETLEF KUHLBRODT

Ende der Siebzigerjahre war Jean Baudrillard berühmt geworden mit einem Büchlein – „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“ (Merve) –, in dem er auch über Graffiti spricht. Der französische Soziologe war begeistert darüber, dass die Wandzeichnungen keine politischen oder pornografischen Botschaften enthielten, sondern bloß „oft aus Underground-Comics bezogene Spitznamen“. Zu sagen: „Ich existiere, ich bin der und der (…) ich lebe hier und jetzt“ erschien dem Vater der Simulationstheorien als eine „radikale Revolte“.

Derlei Graffiti gibt es immer noch: An vielen Ecken des Bezirks, der früher Kreuzberg 61 hieß und ein Mekka ist für alle, die gerne die Stadt lesen, findet man Graffitimaler, die als „Hulk“ oder „Mickey Mouse“ unterschreiben und manchmal auch Namenslisten der hiesigen Jugendbanden „Saddam 61“ bzw. „Chamissoplatzgangstas“. Andere, wohl isoliertere, präsentieren eine Art Mix aus Da- und Hierseinsbehauptung und einer gewissen Sozialkritik wie der „6en“-Mann oder der Typ, der im letzten Jahr überall „Warum muss der Sohn betteln“, „Schweine“ bzw. „Hey, Yorckstraßenschweine!“ an alle verfügbaren Wände, Litfaßsäulen und Bankautomaten geschrieben hatte; oder der Typ, der um Ostern herum begann, auf Kreuzberger Straßen und Gehwegen östlich inspirierte Sätze wie „Don’t speak – thank you“ oder „was ihr redet interessiert uns nicht“ mit bunter Kreide zu schreiben. Der Mensch, der die inneren Stadtbezirke mit seinen „Dus“ durcheinander brachte, wurde dagegen kürzlich als studentische Interessengruppe enttarnt.

Die meisten Graffiti sind heutzutage eher kommunikativ. Manche geben sich dabei eindeutig, andere ironisch, bei anderen kann man das wieder so genau nicht sagen. Ist „Anarchie + Alkohol“ eine selbstironische Forderung oder eine ernst gemeinte Utopie? Ist das großformatige „Hier verkauft Bundeskanzler Schröder Heroin an Kinder“, das eine Woche ungefähr groß und schwarz an dem Brunnen am Mehringplatz stand und dann überpinselt wurde, ein lustiger Fakespruch oder empörter Aufschrei von Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen.

Manches versteht man auch erst nach einiger Überlegung: „D.D.R. RAUS“ etwa, geschrieben in einen Hauseingang Nahe Südstern, wird sich wohl gegen Ostler richten, von denen sich die hiesigen türkischen und arabischen Jugendbanden bedroht fühlen.

Anderes ist unmissverständlich wie „Harald Bergemann, zahle deine Schulden!“. Diese hastig geschriebene Aufforderung stand jahrelang auf einer Haustür in der Gneisenaustraße. Vermutlich wohnt der Angesprochene schon längst nicht mehr hier. Politische Graffiti fordern in unterschiedlichen Jahrgängen zur Revolution am 1. Mai auf. Antikriegsgraffiti sind so selten wie Drogengraffiti, wobei LSD dem früher viel gelobten Hanfhasch mittlerweile den Rang abgelaufen hat und Ecstasy nicht erwähnt wird.

Manche Graffiti richten sich dekonstruktivistisch gegen die Intention ihrer Erfinder wie „A (Kreis) = Herzchen + Peace-Zeichen“. Wenn man die Gleichung umformuliert, kommt „Herzchen = Peace - A (Kreis)“ raus. Ähnlich verhält es sich auch mit meinem kleinen Lieblingsgraffito an einer Wand in der Mittenwalder Straße: „Serkan + Sabrin = Sex in Bett“. Lang haben wir über diese Gleichung gesprochen.

Sex ist sowieso ein Evergreen, wobei Pornografisches eher selten ist: Kaum eine Berliner Straße, in der nicht irgendwo „Sex“ an der Wand steht.

Es gibt auch eine Straße – die Züllichauer –, in der es fast nur Liebesgraffiti gibt. Eins nach dem anderen an der Südmauer des schönen Friedrichwerderschen Friedhofs. Alle sehr groß. Überall Herzen mit Pfeil durch. Manche dokumentieren den Beginn einer Liebe, so ähnlich vielleicht wie die Aufgebotsnachrichten vor dem Standesamt, andere sind Wünsche nach einem Zusammensein oder mutige Liebesbriefe ohne Unterschrift – „Samy! Geliebter! Seelenverwandter! Ich liebe Dich! Unsere Wege werden sich erneut kreuzen“ –, bei anderen weiß man wieder nicht so genau, was das bedeutet, wenn zum Bespiel neben „Nazis Raus“ dann „Elke Komm“ steht.

Das Tolle an diesen Graffiti ist aber, dass sich so viele angesprochen fühlen können: der „Bumsboy“, Dörthe und Gero, Moritz, Derya, Andy, Anja, Mia, Klaus, Martina, Daniel, der von Betty geliebt wird, Patrizia, die von René verehrt wird, Diana, die dem klein geschriebenen mik oder vielleicht auch mirko einen Kuss schickt, und Lu, die oder der Christian schreibt „Ick lieb’ dir och!“

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