: Das Risiko war kalkulierbar
Wenn Zivilcourage in Deutschland kein Fremdwort gewesen wäre, hätten während des Nationalsozialismus viele Menschen gerettet werden können. Belege für Handlungsspielräume in dieser Zeit liefern zwei neue Bände der Schwarzen Reihe
von CHRISTIAN SEMLER
Seit „Schindlers Liste“ das Publikum zu Tränen gerührt hat, ist die Figur des Retters im emotionalen Haushalt nicht nur der Deutschen fest etabliert. Der Kinosaga folgte jetzt die nüchterne wissenschaftliche Prosa in Form des von Wolfram Wette herausgegebenen Bandes „Retter in Uniform“. Es handelt sich um eine Sammlung von Rettungsaktionen deutscher Wehrmachtsangehöriger in den besetzten Gebieten, also jener verschwindend kleinen und bisher unbeachteten Minderheit, die angesichts des Massenmords an den Juden ihrem Gewissen folgte und nicht den Befehlen der Vorgesetzten.
Die Beiträge des Sammelbandes begnügen sich nicht mit einer möglichst genauen historischen Rekonstruktion der Fälle, die schon schwierig genug ist. Versucht wird darüber hinaus, den jeweiligen biografischen Hintergrund aufzuhellen und so zu erklären, woher die Retter eigentlich den Mut, die Entschlusskraft und den Einfallsreichtum für ihre beispielhaften Taten nahmen. Denn die Retter handelten einsam, ohne Rückhalt bei den „Kameraden“. Wir lernen, dass die Rettungstaten oft einem spontanen Entschluss entsprangen – und zugleich in einer vorgegebenen, oft christlich geprägten Wertordung ihre Grundlage hatten.
Für die Analyse der Rettungsgeschichten erweist der Begriff des „Handlungsspielraums“ erneut – wie schon bei der revidierten Wehrmachtausstellung – seine große heuristische Bedeutung. Im strikten System von Befehl und Gehorsam war dieser „Spielraum“ nicht einfach vorhanden, er erschloss sich erst kraft der Initiative des Einzelnen. Zudem war er abhängig von der militärischen Position des Akteurs.
Generell war das Risiko kalkulierbar, wenn es gelang, die latenten Gegensätze zwischen Wehrmacht und SS auszuspielen, wie im Fall jener beiden Wehrmachtsoffiziere im polnischen Przemysl, die mit Waffengewalt die SS daran hinderten, „ihre“ Juden ins Vernichtungslager Treblinka abzutransportieren. Solche Möglichkeiten hatte hingegen Feldwebel Anton Schmid nicht, als er, allein auf sich gestellt, Juden aus dem Wilnaer Ghetto schmuggelte und auch nicht davor zurückschreckte, mit dem polnischen Widerstand zusammenzuarbeiten. Auch dieser bis zu seiner Hinrichtung tapfere und konsequente Mensch handelte aus einem christlichen Impuls.
Generell lässt sich aus dieser wertvollen Sammlung von Biografien der Schluss ziehen, dass viel mehr Rettungstaten möglich gewesen wären, wenn Zivilcourage in Deutschland nicht als Fremdwort gegolten hätte. Darin liegt die aktuelle Botschaft des Werkes. Deshalb erweisen sich Befürchtungen, Arbeiten wie diese könnten zur Entlastung der Wehrmacht und ihres Vernichtungskrieges im Osten beitragen, als grundlos. Sie wecken vielmehr die bohrende Frage: Wie hättest du dich in einer vergleichbaren Situation verhalten?
Einen vergleichbaren aktuellen Bezug hat auch Coen Roods Erfahrungsbericht „Wenn ich nicht erzählen kann, muss ich weinen“, der in der Reihe „Lebensbilder“ bei Fischer erschienen ist. Der jüdische Schneider aus Amsterdam schildert in seinem in der unmittelbaren Nachkriegszeit geschriebenen Bericht sein Schicksal als Zwangsarbeiter bei einer Gleiwitzer Rußfabrik, in einem Außenlager von Auschwitz. Rood, in der sozialistischen Jugendbewegung groß geworden, erweist sich als präziser, scharf beobachtender, manchmal auch witziger Zeitzeuge. Inmitten des tagtäglichen Grauens, der Todesangst, des ewigen Hungers, der Krankheiten bewahrt er seine humane Weltsicht. Er und seine holländischen Leidensgenossen helfen einander, teilen ihre Rationen, ermutigen sich gegenseitig. Diese Basissolidarität, der nichts borniert-nationalistisches anhaftet, macht die holländischen Häftlinge immun gegenüber den Spaltungsmechanismen im Lager. Sie widerstehen der nazistischen Demagogie von Ordnung, Disziplin und Sauberkeit, der so viele gerade der politischen Häftlinge erlagen, als sie als Kapos ihre Mithäftlinge vor „Vertierung“ bewahren wollten.
Die Veröffentlichung von Coen Roods Bericht hat eine anrührende Vorgeschichte, die in dem Band dokumentiert ist. Der Vater der Literaturagentin Brigitte Axster, die Roods Buch schließlich bei Fischer unterbrachte, war Direktor jener Gleiwitzer Rußfabrik gewesen, in der Rood schuften musste. Axster, eine sensible und kluge Frau, eine 68erin, hatte jahrzehntelang gefürchtet, ihr geliebter Vater könnte in Nazi-Verbrechen verwickelt gewesen sein. Als sie Roods Namen anlässlich eines Besuchs in der Gleiwitzer Fabrik entdeckt, nimmt sie Kontakt zu dem ehemaligen Häftling auf und bringt ihn mit ihrem Vater zusammen. Zu ihrer Erleichterung erfährt sie, dass ihr Vater sich mehrfach für die Häftlinge eingesetzt hatte. Zudem setzte sich Axster frühzeitig für eine Entschädigung der Zwangsarbeiter ein. Dass dies, wenngleich in ungenügender Form, geschah, hat Rood in den letzten Jahren erlebt. Er wird dieser Tage 85 Jahre alt.
Wolfram Wette (Hg.): „Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht“, 256 Seiten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2002, 13,90 €ĽCoen Rood: „ ‚Wenn ich es nicht erzählen kann, muß ich weinen‘. Als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie“, 226 Seiten, Fischer Tb. 2002, 9,90 €
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