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Der schutzwürdige Staat

taz-Serie „Rot-grüne Bilanzen“: Recht und Ordnung sind heute Maximen linken Regierens. Und die Einwanderungspolitik verdankt ihre Erfolge gewiefter Steuerung

Die politische Linke konnte das erste Mal seit Jahrzehnten Ausländerpolitik offensiv gestalten

Es gehört zweifelos zu den lehrreichen Paradoxien der letzten vier Jahre rot-grünen Regierens, dass die Koalition sich innenpolitisch am nachhaltigsten auf einem Feld profilierte, das sie eigentlich still und leise unterpflügen wollte, weil sie dort nur noch Unkraut wähnte: dem der Terrorismusbekämpfung. Mit dem 11. September war dieses Vorhaben Makulatur.

Am Anfang der Legislaturperiode war es noch fester Vorsatz der Grünen, „die Terroristengesetze der Siebziger- und Achtzigerjahre aufzuheben“. An ihrem Ende wird die sicherheitspolitische Landschaft von dem umfangreichsten Antiterrorpaket markiert, das seit den Siebzigerjahren verabschiedet wurde. Hatten die Grünen 1998 noch formuliert, die Geheimdienste hätten „fast alle Aufgaben verloren“ und seien deshalb „schrittweise aufzulösen“, erfreuen sich die Dienste heute einer seit den Tagen des Kalten Krieges nicht mehr gekannten Aufgabenfülle und Sinnhaftigkeit.

Eine der weitreichendsten Reformen des Grundgesetzes wurde in Kraft gesetzt, aus der nicht der Bürger, sondern der Staat gestärkt hervorging. Schon das hätte den meisten Anhängern normalerweise gereicht, den Stab über die rot-grüne Innenpolitik zu brechen. Doch was ist seit dem 11. September 2001 normal? Die Anschläge von New York und Washington haben nicht nur die Regierungspolitik, sondern auch deren Parameter verändert.

Die Sicherheitspolitik der Sozialdemokraten und der Grünen ging immer von zwei Überzeugungen aus: Im Widerstreit der Exekutivbefugnisse des Staates und der Abwehrrechte des Bürgers ist Letzteren der Vorrang zu geben. Entsprechend war die politische Positionierung in den Sicherheitsdebatten eher reaktiv. Repression, das war die Domäne der Rechten. Demgegenüber ging die Linke von der gesellschaftlichen Bedingtheit von Kriminalität und entsprechend dem Primat der Prävention aus.

Nach dem 11. September waren in der rot-grünen Koalition Stimmen zu hören, die an die deutschen Erfahrungen nach dem Herbst 77 erinnerten. Sie verwiesen darauf, dass der Terrorismus sich nicht repressiv besiegen lasse – erst die diversen Dialogoffensiven hätten dazu geführt, den Teufelskreis von Repression, Isolation und Sympathisantentum zu durchbrechen. Schon die Frage, mit wem nach dem 11. September ein solcher Dialog hätte geführt werden können, offenbart das Dilemma dieses falschen Ansatzes. Auch ist es unmöglich, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend das schonendste Mittel einzusetzen, wenn der terroristische Täter sich dadurch auszeichnet, dass er weder sich noch andere schont. Und wie soll überhaupt die Verhältnismäßigkeit der Gefahrenabwehr bestimmt werden, wenn die Gefahr nicht klassifiziert werden kann, weil sie weitgehend unbekannt ist?

Aus diesem Dilemma heraus hat die Regierungskoalition zwei Gesetzespakete geschnürt, die einige systematische Mängel bergen. An der verfassungsrechtlichen Grundlage des erweiterten Aufgabenkatalogs des präventiven Fahndungsverbundes von Geheimdiensten und Polizei lassen sich zumindest Zweifel hegen. Auch tat man gut daran, die Einführung biometrischer Merkmale vorerst auf Eis zu legen.

Da derzeit niemand sagen kann, ob mit den beschlossenen Maßnahmen die optimale Abwägung zwischen dem Schutzbedürfnis und dem Freiheitsinteresse der Bürger getroffen wurde, lässt sich positiv vorerst zweierlei vermerken: Zum einen unterliegen die beschlossenen Maßnahmen nach fünf Jahren einer Revision. Allerdings müssen die Kriterien – nur Effizienzprüfung oder auch Rechtsgüterabwägung – für diese Überprüfung erst geklärt werden. Wesentlicher ist jedoch, dass sich in den Maßnahmen ein weitgehender Konsens ausdrückt, der unter anderem verhindert hat, dass religiöse Gruppen in der Gesellschaft unter Verdacht gestellt wurden. Eine Ausweitung der Debatte über Terrorismusbekämpfung zur kulturellen Auseinandersetzung wurde also verhindert.

Die Regierungskoalition hat in diesem Prozess unter der Hand das verfassungssrechtliche Grundverständnis ihres Tuns in einer Weise erweitert, die das Bundesverfassungsgericht schon 1978 – sinnigerweise in einem Urteil zum Kontaktsperregesetz – formuliert hatte: „Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm gewährleistete Sicherheit seiner Bevölkerung [sind] Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind.“ Tony Blair hat es zwanzig Jahre später etwas knapper formuliert: „Law and order is a labour issue.“ Das haben inzwischen auch die Regierungsparteien erkannt und müssen mit dieser Erkenntnis und den daraus resultierenden Entscheidungen laufen lernen.

Die Grünen wollten die Geheimdienste auflösen. Heute erfreuen diese sich großer Sinnhaftigkeit

Auch auf das Einwanderungsgesetz hat die sicherheitspolitische Lage nach dem 11. September abgefärbt, und zwar in doppelter Hinsicht: Es konnte deshalb noch verabschiedet werden, weil sich die befürchteten gesellschaftlichen und kulturellen Konflikte nicht auftaten. Seine Bestimmungen werden jedoch nunmehr stärker unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Zusammenhalts betrachtet. Die Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, hebt die Frage nach der Art und Weise des Zusammenlebens auf die Agenda. Damit soll nicht die Frage nach einer Leitkultur aufgeworfen werden, sondern die nach einem verbindlichen Wertekanon. Dieser Wertekanon kann Geltung nur dann erlangen, wenn Integrationspolitik die materiellen Voraussetzungen dafür schafft. Mit dem Einwanderungsgesetz hat es die politische Linke zum ersten Mal seit Jahrzehnten geschafft, aus ihrer gesellschaftlich minoritären Position heraus in der Ausländerpolitik offensiv gestaltend zu wirken. Das war zunächst einmal kein Resultat kluger Konzepte, sondern einer gewieften strategischen Steuerung der Politik. Beim Einwanderungsgesetz wurde der Fehler vermieden, der aus dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht von 1999 letztlich eine politische Niederlage machte. Man verließ sich bei dem Gesetzgebungsverfahren nicht mehr allein auf die administrativen Machtbefugnisse, sondern konzentrierte sich auf die gesellschaftliche Vermittlung mit Hilfe eines breiten, auch parteipolitischen Dialogs.

Ohne einen Innenminister Otto Schily wäre der Koalition dies wohl nicht gelungen. Doch die bisherige Debatte um die Ausgestaltung des Gesetzes deutet bereits auf die Gefahr der kommenden Niederlage hin. Die einseitige Betonung des wirtschaftlichen und demografischen Nutzens der Zuwanderung lässt nicht auf eine rot-grüne Bereitschaft schließen, auch die Akzeptanz der Bevölkerung als legitimes Kriterium anzuerkennen. Die Notwendigkeit dieser Akzeptanz anzuerkennen würde bedeuten, die Integration der schon hier lebenden Ausländer in den Vordergund zu rücken. Sie sollte nicht erst dadurch evident werden, dass Populisten daraus politischen Nektar saugen.

DIETER RULFF

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