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Schreie im Gruselkabinett

Das Hamburger Kindermuseum zeigt Babys, Blagen und Bälger aus fünf Jahrzehnten

Nur langsam gewöhnen sich die Augen an das Halbdunkel des vorderen Ausstellungsraums, die Exponate müssen vor allzu grellem Tageslicht geschützt werden. Deshalb hat man im Kindermuseum am Hamburger Großneumarkt die Jalousien heruntergelassen und die Sonne durch ein paar Strahler ersetzt. Spärlich, aber akzentuiert beleuchten sie eine kleine Sensation: ausgestopfte Kinder aus fünf Jahrzehnten. Hier hat der Präparator offenbar ganze Arbeit geleistet. Oder handelt es sich doch nur um kunstvoll gefertigte Nachbildungen aus einem Wachsfigurenkabinett?

Professor Reiner Sauer lächelt vielsagend – und bleibt die Antwort schuldig. Das hier sei sein Lebenswerk, sagt er, der Aufbau des Museums habe ihn viele Jahre gekostet. Sauer deutet auf einen etwa zwölfjährigen Jungen. „Der hier zum Beispiel, das ist kein Arbeiterkind. Turnschuhe von Adidas, Schulranzen von Eastpak mit Handytasche, auf ungekämmt gestylte Frisur, und die Hilfiger-Jeans hängt in den Kniekehlen. Das ist ein typisches Kind von reichen Altlinken. Den einstigen Konsumverzicht der Eltern holen die jetzt dreifach wieder auf. Nur die allerfeinsten Marken, für die SMS-Generation ist das extrem wichtig.“

Und teuer, Eltern mit geringem Einkommen können sich das gar nicht leisten. Aber Professor Sauer hört schon nicht mehr zu. Voller Stolz präsentiert er ein Ausstellungsstück nach dem anderen. Ein Mädchen aus der Girlie-Generation, die nur eine Erfindung der Medien und der Industrie war; ein Knabe aus den Fünfzigerjahren mit extremem Kurzhaarschnitt und Hirschen auf dem selbst gestrickten Pullover. Aus einer Seitentasche der kurzen Hose lugt eine Zwille hervor. Ein Zwillingspärchen mit Zahnspangen, Zöpfen und karierten Faltenröcken übt den Gummitwist.

Das ist beeindruckend, aber wer schaut sich das an? Aufgeklärte Bildungsbürger, die mit ihren Kindern auch in die Kunsthalle rennen? Pubertierende Schüler im Selbstfindungskurs? „Vor allem sind es die Väter,“ meint Professor Sauer, „und oft bringen sie ihre Söhne oder Töchter gleich mit.“ Genau das sei es, was ihn eigentlich interessiere, klärt Sauer auf. „Mit der Erziehung läuft heute doch einiges schief, und das ist nicht nur eine Folge der Rezession“, fügt er hinzu. „Viele Väter sehen doch ihr Alter Ego in den Kindern. Gerade wer es im Leben zu nichts gebracht hat, vielleicht nur Hausmeister geworden ist oder Journalist, pardon, neigt dazu, Kinder mit seinen Projektionen zu überfordern. Du sollst es doch mal besser haben als dein Vater. Auf 3sat haben sie neulich sogar mit einem Reproduktionsmediziner und einem Psychotherapeuten über die Sehnsucht nach Selbstverdopplung diskutiert, und das betrifft nicht nur das Klonen.“

Das Argument, dass es den Kindern in einigen Ländern noch viel schlechter ergeht als hier, dass sie arbeiten oder gar in den Krieg ziehen müssen, mag er nicht so recht gelten lassen: „Das ist schrecklich, aber hier haben wir doch das genaue Gegenteil: Eine voll gefressene Wohlstandsgesellschaft, die nichts mit sich anzufangen weiß. Dazu kommt der enorme Leistungsdruck, den auch Kinder schon sehr früh zu spüren bekommen. Die Eltern sollten ihre Blagen einfach nicht so wichtig nehmen und sie früh auf ihre eigenen Beine stellen. Wie in den südlichen Ländern. Dann klappt das schon. Aber jetzt zeige ich Ihnen erst mal den hinteren Raum.“

Reiner Sauer geht voran, dann drückt er Knöpfe an einem seltsamen Apparat. „Unsere Multimedia-Installation. Ein Museum, das was auf sich hält, braucht so was heutzutage. Bei uns gibt’s das hier: Kinderschreie aus aller Welt.“ Aus zwei mannshohen Lautsprechertürmen klingt erbärmliches Babygeschrei. „Uäääääh, uäääääh.“ Zuerst verhalten, dann immer heftiger: „Uäääääh, uäääääh, uäääääh.“ Als Sauer spürt, dass es unerträglich wird, schaltet er ab. Plötzlich ertönt die wohl vertraute Geräuschkulisse krakeelender Kinder, mittendrin ruft eine Mädchenstimme ohne Unterlass: „Anne, Anne, Anne“ – das türkische Wort für Mutter. Wer direkt neben einem Spielplatz wohnt, muss das nicht haben. Nach einer höflichen, aber eindringlichen Bitte schaltet der Professor das Gerät ab.

Professor Reiner Sauer, Leiter des Kindermuseums, erzählt viel – aber vielleicht nicht alles. Ein heimlicher Kinderhasser, so wie man vielleicht Hunde oder Katzen hasst, ist er mit Sicherheit nicht. Die obligatorische Frage nach eigenen Kindern beantwortet er jedoch ausweichend: „Wissen Sie, ich will seit langem eine Fernbedienung für Kinder erfinden. Mit einer großen Standby-Taste.“ DIETER GRÖNLING

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