: Zeitarbeit mit Excel-Programmen
Sprachlos vor Spritzbeton
Nach einem Jahr erfolgloser Suche hatte ich die Hoffnung aufgegeben, als Soziologe einen Job zu finden. Doch was sollte ich tun? Angeblich arbeiten Soziologen hauptsächlich im Taxigewerbe. Ich besaß nicht einmal einen Führerschein, geschweige denn einen Mercedes. Eine Freundin gab mir den Tipp, es mal in einer Zeitarbeitsfirma zu versuchen. Soo schlimm sei das nun auch nicht mit der Ausbeutung.
„Soziologe sind Sie. So, so. Und als was wollen Sie arbeiten?“, fragte mich die Job-Vermittlerin mit der einen Meter hohen Frisur. „Na, was gibt’s denn so?“ – „Nein, nein, umgekehrt wird ein Schuh draus: Was können Sie denn?“ – „Na, ich hab eine kaufmännische Ausbildung, also alles, was mit Büroarbeit zu tun hat.“ – „Als Mann im Büro?“, meinte sie und fuhr fort, „nun, da möchte ich Ihnen lieber gar keine Hoffnungen machen. Männer im Büro, das sieht ganz schlecht aus, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Sie guckte mich zweideutig an. Ich verstand nicht einmal annähernd, was sie meinen könnte, nickte aber wissend.
Die Fragerei ging weiter: „Sie kennen sich aus mit Office-Anwendungen? Word?“ – „Ja.“ „Excel?“ – „Ja.“ – „Access?“ – „Ja.“ Sie hätte auch „Schmierseife“ fragen können, und ich hätte mit Ja geantwortet. „Bitte füllen Sie das hier aus. Ein kleiner Test über Ihr Wissen zu Arbeitssicherheit in Büros.“ Ich las. Multiple Choice: Wie viele Beine hat ein sicherer Bürostuhl? a) Vier, b) fünf oder c) sechs? Ist bei einer Schnittwunde a) die Polizei, b) die Feuerwehr oder c) der Sicherheitsbeauftragte zu verständigen? Ein Aktenordner steht im oberen Regal. Um ihn zu erreichen, klettern Sie a) auf den Tisch, b) auf den Bürostuhl c) auf eine Leiter d) auf das Bürotreppchen?
„Ich glaube, eine kleine Sache hätte ich da doch noch für Sie“, meinte die Vermittlerin mit Blick auf den Fragebogen. – „Ja?“ – „Sie sprechen Englisch?“ – „Ja?“ – „Haben Sie eine Krawatte und ein Jackett?“ – „Ääh … Ja? Ja, ja!“ „Sie müssten sich rasieren!“ – „Ja?“ – „Herr Richter!“ – „Ja.“ –„Amerikanische Botschaft.“ – „Yes.“ – „Bewerbungsgespräch morgen 20.00 Uhr. Außenstelle Dahlem. Die Bauabteilung. Melden Sie sich bei Mr. Miller. Und, Herr Richter!“ – „Ja?“ – „Rasieren Sie sich!“
Ich rasierte mich, lieh mir ein Jackett mit Krawatte und fuhr nach Dahlem. Mr. Miller, ein kleiner, unrasierter Typ mit brauner Haut und aufgeknöpftem Hemd, drehte sich in seinem Bürostuhl zu mir um: „Hi! You’re Mr. Richter?“ – „Yes I am. Good evening!“ Im einzigen Moment meines Lebens, wo ich mich hoffnungslos overdressed fühlte, schlug er mir vor, erst mal ein wenig zu plaudern. Er fand alles, was ich ihm von mir erzählte, „absolutely interesting“. Und er habe noch nie einen Deutschen getroffen, der so gut Englisch spräche. Ich bekam einen kleinen Höhenflug.
Dann übergab er mir einen Zettel: „Could you, please, translate this into English?“ Ich las: „Spritzbeton. 1. Zementgehalt. Bei der Herstellung der Trockenmischung beträgt die Bindemittelmenge meist zwischen 320 und 460 kg pro Kubikmeter Beton. Um den eigentlichen Zementgehalt des eingebauten Spritzbetons zu ermitteln, muss jedoch der Rückprall miteinbezogen werden. Im Vergleich zur Ausgangsmischung führt der Rückprall hauptsächlich zu einem Verlust der grobkörnigen Zuschläge und somit zu einer Zunahme des Zementgehalts.“ Spritzbeton? Ausgangsmischung? Rückprall?
Natürlich versagte ich. Mr. Miller war erstaunt. Eben war ich noch der beste Englischsprecher Deutschlands gewesen. Und jetzt, wo ich den Text sogar ablesen durfte, klappte es nicht. Offenbar glaubte er, ich schäme mich.
„OK, it doesn’t matter. Please, make an Excel sheet like this one.“ – „Yes.“ Nie wieder habe ich eine derart komplizierte Tabelle gesehen. Nach 20 Minuten gab ich’s auf. „Mr. Richter, what shall we do now? I have to go home.“ – „I’m sorry, Mr. Miller. I’m a little nervous. But I promise, I’m able to make such a table.“ „Do you have a computer at home?“ – „Yes?“
Ich sollte ihm zu Hause eine ähnlich komplizierte Excel-Tabelle basteln und sie am nächsten Morgen abliefern. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war die Langsamkeit meines Computers. Für jede verschobene Spalte brauchte er 20 Minuten, um sie in seinem altersschwachen Elektronenhirn nachzurechnen. Ich arbeitete die ganze Nacht. Die Ausdrucke kamen nicht annähernd an die Komplexität der Miller’schen Tabellen heran, dafür waren sie in Farbe.
Am nächsten Morgen fuhr ich wieder nach Dahlem und wartete drei Stunden im Schnee auf Mr. Miller. Dann erkundigte ich mich beim Security Officer. Mr. Miller war angeblich auf Dienstreise gefahren, und Briefumschläge anzunehmen, war dem Security Officer verboten. Ich öffnete das Kuvert. Der Officer ging leicht in Deckung. Ich zog die Tabellen raus. Der Officer runzelte die Stirn: „This crap is for Mr. Miller?“
In den nächsten Wochen rief ich mehrmals bei Mr. Miller an. Irgendwann ließ er sich nicht mehr von seinem Sekretär verleugnen: „Hi Mr. Richter! No, I did not forget you. I call you back, OK?“ – „Yes?“
„I said I call you back!“ – „Yes, Sir.“ Ich habe nie wieder etwas von Mr. Miller gehört. Wie ich fünf Wochen später Briefe für die Allianz-Versicherung sortiert habe, ist eine andere Geschichte. Nur so viel: Rasieren brauchte ich mich nicht dafür.
DAN RICHTER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen