Deichgraf gesucht

Die Wahlkämpfer hoffen auf politisches Oberwasser durch die Flut

BERLIN taz ■ Militärgrüner Regenparka, angespannter Gesichtsausdruck, Kameraschwenk auf tobendes Wasser. „Das ist eine grausame Geschichte“, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder gestern im sächsischen Grimma – und erwog sogar, den Solidarpakt II vorzuziehen. Doch der Kandidat war schneller. Bereits am späten Dienstag stürzte sich Edmund Stoiber – gehüllt in eine glänzende Feuerwehrjacke – bei Passau in die Fluten. Der Fernsehsender n-tv zeigte später, wie sich der Landesvater missmutig den Regen von den Brillengläsern wischte. Das kommt nicht so gut. Die Wahlkämpfer wissen: Die Flut kann zu politischem Oberwasser verhelfen.

Helmut Schmidt zum Beispiel. Der war 1962 bei der großen Sturmflut in Hamburg Innensenator. So wie heute am anderen Ende der Elbe, standen seinerzeit 25 Prozent des Stadtgebiets unter Wasser. Schmidt ignorierte die Frage, wer welche Kompetenzen hat und was er nach dem Buchstaben des Gesetzes dürfe und was nicht. Er organisierte schnell eine Rettungsaktion, die vermutlich Tausenden das Leben rettete. Das begründete seinen Ruf als „Macher“.

Zum Beispiel Matthias Platzeck. „Wir tun alles Menschenmögliche“, erklärte der Umweltminister Brandenburgs, als 1997 die Deiche an der Oder zu bersten drohten. Platzeck versprach nichts. Er stand einfach nur da. Auf dem Deich, müde, abgekämpft, von Säcke schleppenden Menschen umringt. Das ist etwas anderes, als die Halbierung der Arbeitslosigkeit zu versprechen. Platzeck ist inzwischen zum Ministerpräsidenten Brandenburgs aufgestiegen. Nun also reisen Schröder, Trittin, Stoiber und Co. zu den Fluten. Auch sie werden sich in der Pose des Deichgrafen üben. Allein: Es wird ihnen nichts nützen. Im Unterschied zu Schmidt oder Platzeck haben sie bei der Wasserschlacht nichts zu entscheiden. Sie befehligen keinen Krisenstab, treffen keine Entscheidungen, organisieren keine Rettungsaktionen.

Sicher: Die Bundesregierung beschloss gestern Soforthilfen für die Betroffenen der Hochwasserkatastrophe. 385 Millionen Euro will Kanzler Schröder bereitstellen, die Kreditanstalt für Wiederaufbau soll zusätzlich verbilligte Kredite in Höhe von 100 Millionen Euro ausschütten. Da wollte Herausforderer Edmund Stoiber nicht nachstehen. Auch sein Kabinett verkündete gestern ein Sofortprogramm für Bayern. 100 Millionen sollen ans überschwemmte Wahlvolk ausgeschüttet werden.

Das Bundesfinanzministerium beeilte sich zu erklären, dass das rot-grüne Kabinett doppelt so viele Sofortmittel zur Verfügung stellt wie die Regierung Kohl bei der Oderflut. Dass diesmal mehr als doppelt so viele Menschen wie 1997 betroffen sind, erwähnt es nicht.

Dass es tatsächlich ein Wettrennen zwischen Union und SPD um den Titel „Deichgraf 2002“ geht, bestätigte gestern indirekt Verteidigungsminister Peter Struck (SPD). Der sagte nach der Sitzung des Verteidigungsausschusses im Bundestag: „Als Deichgraf – wenn man es unabhängig von den Zuständigkeiten für den Katastrophenschutz der Ländern sieht – würde ich Innenminister Schily bezeichnen.“ Logisch. Der war noch vor Stoiber in Passau. Und noch vor Schröder in Dresden. NICK REIMER