piwik no script img

Prozession der Neugierigen

Am Wochenende war „Tag der offenen Tür“ der Bundesministerien in Berlin. Highlight war das Kanzleramt. Trotz Warteschlangen und Durchsuchungen. Gelassener ging es bei Künast zu

von WALTRAUD SCHWAB

Regierung zum Anfassen gab es am Wochenende in Berlin. „Einladung zum Staatsbesuch“ nannte sich das. Zum vierten Mal öffneten die Ministerien ihre Pforten fürs gemeine Volk. Mit überwältigendem Zuspruch der 100.000 Besucher. Denn die Berliner und Berlinerinnen lieben Großveranstaltungen. Schlangen vor dem Einlass, Handtaschen- und Körperkontrollen schrecken nicht ab. Das Begehren wächst mit den Hindernissen.

Es ist unmöglich, an den zwei Tagen alle 17 Orte zu schaffen. Darum aber gehe es nicht, erklärt ein junger Sozialarbeiter mit Ziegenbart, sondern um „den Hype, das Feeling“. Man müsse sich treiben lassen. Regierungsgebäude als Schicksal. „Je länger man mitläuft, desto mehr spürt man sich selbst.“ Er redet, als meine er den Kampf gegen das Hochwasser, hakt seine bauchnabelentblößte Freundin ein und schiebt sie auf den roten Teppich des Kanzleramtes.

Wie jedes Jahr ist Schröders Interimsdomizil der stärkste Magnet. Warum: „Einmal die Waschmaschine von innen sehen. Der Macht so näher kommen. Den schröderschen Schleudergang noch schnell miterleben“, sagt eine rothaarige Berlinerin. In der „Prozession der Neugierigen“ zieht sie zusammen mit mehreren zehntausend Besuchern auf dem etwa eineinhalb Meter breiten, roten, endlos langen Läufer durch das Haus. Rechts und links säumen Barrieren und Wachleute den Weg der Schaulustigen. So geht es vorbei an der Segnung der Sternsinger „20 C+M+B 02“, vorbei an einer Auswahl von Staatsgeschenken – Säbel, Teeservice, Ikonen –, durch einen Presseraum und einen orangefarbenen Konferenzsaal hindurch bis hin zum Kanzlerpark.

„Eine Herde, die auf die Koppel geführt wird“, sagt die Berlinerin entsetzt. Daran zeige sich Schröders Umgang mit dem Souverän. Ansonsten spüre sie hier überall noch den Einfluss des ursprünglichen Bauherrn Kohl. Sein Macht- und Sicherheitsdenken, seine Angst vor den Leuten. Er hatte sich in Berlin eine Burg bauen wollen und hatte vergessen, dass das lebensfeindliche Architektur ist. Dass man da drin krank wird, allerlei Erkältungen und Halsschmerzen kriegen kann.

Nachhaltigkeit ist das diesjährige Stichwort des Tags der offenen Tür. Im Bundeskanzleramt ist davon nicht viel zu merken. Bei Joschka Fischer im Außenministerium auch nicht. Wohl aber wird die Masse dort nicht wie eine Herde durchs Haus geleitet. Sie darf flanieren. Im Hof präsentieren sich auf einer alternativen Tourismusbörse die Beitrittskandidaten der EU. Ein Stelzenläufer verteilt Wimpel, eine osmanisch gekleidete Prinzessin Baklava und die Grand-Prix-Gewinnerin Marie N. aus Lettland geben Autogramme. Dazu Musik und Tanz. So eingestimmt geht der Besucher beschwingt durch das Amt – früher Reichsbankgebäude, später Sitz des SED-Zentralkomitees. Man kann sich frei bewegen und Wandtäfelungen, Lampenverzierungen und Tischdekorationen bewundern. Ein Rentnerehepaar will „die ganze Ausstattung und die Sicherheitsvorkehrungen erleben“. Im Gästebuch wird das Rundumwohlgefühl wortreich bestätigt: „Für Ihre Institution einmal zu arbeiten ist mein größter Traum“, schreibt ein 21-jähriger Samuel. „Fischer, weiterhin als Außenminister viel Glück!“, wünscht das Ehepaar A. „Wesentlich informativer als im Kanzleramt“, bescheinigt eine Schwäbisch-Hallerin. Nur eine Frau hat Verbesserungsvorschläge: „Vielen Dank für die schönen Eindrücke. Leider sollten Sie sich doch noch mal mit einem Innenausstatter in Verbindung setzen oder einen besseren Künstler konsultieren“, rät sie dem Außenminister.

Nach den Pflichtministerien der Stars kommt die Kür. Denn die meisten Besucher und Besucherinnen lassen sich treiben. „Wir haben uns in einen Shuttle-Bus gesetzt, und der fuhr hierher zum Verkehrsminister“, sagt eine grauhaarige Frau. „Generelles Interesse eben. Es hätte auch Bergmann oder Trittin sein können.“

So aufgeräumt wie der Chef des Hauses, Bodewig, kommt auch die Präsentation daher. Ein Mann im Anzug erläutert die Architektur. Konferenzsäle werden wie Kleinode präsentiert, Dolmetscherkabinen als Juwelen, Wandvertäfelungen als Kunst am Bau. Dazu die Atriumsidee. Altbau. Neubau. Funktionalität. Die nicht begehbaren Terrassen auf dem Dach sind Metapher. Vom Auto, Zug oder Flugzeug aus sieht man den Himmel auch nur durchs Fenster.

Nichts Persönliches sticht in Bodewigs Büro ins Auge. Kein Problem, es bei Bedarf zu räumen. Weil er gern Süßes isst, wurde ein Teller Kekse aufgestellt. Für die Besucher zur Ansicht. Denn alles ist auf Bewunderung ausgelegt. Selbst die Absperrung aus rotem Samt um das Modell des ICE herum. Die Berliner zollen den Respekt gern. So wie der Mann mit dem Fahrradanstecker im Ohr, der Mann mit dem Schiff auf seiner Tasche, der Mann mit Lilienthals Flugobjekt auf dem Hemd. „Zufall“, sagen sie. Verkehrsfetischisten seien sie alle nicht. Sie kommen aus ihren Berliner Dörfern angereist, um die Großstadt zu erleben. Das fördere die Verbundenheit. Einer war schon bei Schily und Struck. „So viele Konferenzsäle wie heute habe ich noch nie besichtigt.“ Genießen statt sehen!

Im Hof von Künasts Ministerium wurde der Tag der offenen Tür zum Jahrmarkt. Hier wird Nachhaltigkeit sinnlich. Es gibt Bio im Überfluss. Als Eis zergeht es auf der Zunge. Die Stimmung ist gelöst. Mittendrin die Ministerin zum Anfassen. „Schönes Fest. Sind Sie in Gedanken hier oder bei den Bauern?“, wird sie gefragt. „Ich bin immer hier, da und dort“, sagt sie und zeigt wie in Trance auf ein Bild mit blühenden Blumen. „Hier der Ökoweinanbau. Das müssen wir forcieren. Schauen Sie, da sind Wildkräuter zwischen den Reben.“ Und obwohl sie nichts mehr gefragt wird, fügt sie hinzu: „Ich glaube, dass ich das schönste Ministerium habe.“ Wie lange noch? Die Frage stellt sich nicht. Denn es ist schon später Nachmittag, und der Funfaktor der Veranstaltung zeitigt Wirkung. Als Minister und Ministerin der Herzen tragen Fischer und Künast von den Grünen an diesem Wochenende den Sieg davon.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen