: Doping für den Aufbau Ost?
von NICK REIMER
Gerald Gotthard stemmt sich gegen das verklemmte Hallentor. Viel reden mag er nicht. Nur so viel: „Ich muss nächste Woche liefern.“
Seine Papierfabrik liegt am geografischen Mittelpunkt Sachsens, am Zusammenfluss von Bobritzsch und Mulde im Landkreis Freiberg. Ein malerischer Flecken – bis vor einer Woche. Zeitgleich trafen hier die Hochwasserscheitel der Gebirgsflüsse aufeinander, wüteten in der Rheinsberger Spezialpapier GmbH. Alle Rohstoffe wurden weggespült, mehrere Wochenproduktionen vernichtet, Betriebsteile zerstört. Zwei Meter hoch stand das Wasser in den Werkshallen. Gotthard: „Experten beziffern die Schäden auf 750.000 Euro“.
In den Hochwassergebieten beginne „der Aufbau Ost im Prinzip von neuem“, hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder gesagt. Aufbau Ost – ein Stichwort, dass in manchen Branchen Goldgräberstimmung auslöst. Sprunghaft schossen die Aktienkurse der Baukonzerne nach oben: Heidelbergcement legte seit Ende letzter Woche 15 Prozent zu, Hochtief kletterte um 19, Bilfinger & Berger um 27, Holzmann gar um 150 Prozent. Karl Brenke, Konjunkturexperte des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), konstatiert ein Muster, dem die wirtschaftliche Entwicklung nach Naturkatastrophen folgt: Nach einem kurzfristigen Einbruch des Bruttoinlandsproduktes folgt durch den Wiederaufbau eine Wachstumsphase. Die Fluten als Doping für den Aufbau Ost?
„Für den Bau trifft das kurzfristig sicherlich zu“, urteilt Professor Martin Rosenfeld, Regionalexperte des Hallenser Institutes für Wirtschaftsforschung (IWH). Seit Mitte der 90er-Jahre durchleide die Branche einen Abwärtstrend, der stets dazu führte, dass das kräftige Wachstum des Verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland neutralisiert wurde. Allein im vergangenen Jahr gingen am ostdeutschen Bau 40.000 Stellen verloren. „Durch den Wiederaufbau wird dieser Abwärtstrend jetzt erst einmal gestoppt“, sagt DIW-Forscher Brenke. Ilona Klein vom Zentralverband des Deutschen Baugewerbes formuliert das so: „Die Firmen sind da, die Beschäftigten sind da. Wir können sofort mit der Arbeit anfangen.“
Für die Wirtschaftsforscher ist jedoch klar: Der Trend wird zwar aufgehalten, aber nicht umgekehrt. „Wenn in zwei Jahren die Schäden behoben sind, geht die Schrumpfung weiter“, urteilt IWH-Experte Rosenfeld. Dass das von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Geld Impulse für den Bausektor bringt – darüber sind sich alle einig. Reicht das aber, um die ostdeutsche Wirtschaftskraft näher an die westdeutsche heranzuführen?
„Man muss andere Effekte gegenrechnen“, sagt Karl Brenke. Wer jetzt erst mal sein Haus in Ordnung bringen muss, kann sich das neue Auto nicht mehr leisten. Im Gegenteil: Er wird sich einschränken müssen, beim Kauf von Kleidung genauso wie beim Urlaub. „Es wird zu einer eingeschränkten Kaufkraft kommen“, prophezeit Brenke. Und das wird etliche Gewerbetreibende die Existenz kosten. Besonders für die konsumnahen Dienstleister gelte: „Die Flut spült Existenzsorgen an.“ Zum Friseur geht eben in Dresden jetzt niemand, die Ladenmiete aber läuft weiter. Auch Rosenfeld rechnet gegen. Etwa die Einbußen des Verarbeitenden Gewerbes: „Produktionsausfall, notwendige Neuinvestitionen, Lieferschwierigkeiten – viele Mittelständler werden hart gegen den Ruin kämpfen.“ Ohne wirksame Saatshilfe werden viele verlieren.
Gerald Gotthard kämpft. Zuerst muss der Geschäftsführer der Rheinsberger Papierfabrik neue Rohstoffe ordern. Ob die geliefert werden können, ist unklar – die Brücke über die Mulde ist beschädigt. In zwei Wochen will er die Halle so weit haben, dass erste Maschinen wieder laufen. „Man soll optimistisch sein: Vielleicht kann die Produktion in vier Wochen wieder voll rollen.“ Liefern muss er nächste Woche. Der Kunde aus Süddeutschland ist sein wichtigster Abnehmer. „Kündigt der mir, kann ich den Laden dichtmachen.“
Für Flutopfer wie Gotthard hat die Industrie- und Handelskammer Dresden (IHK) eine Hotline geschaltet. „Rund um die Uhr“, sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Detlef Hamann, suchen Firmen Rat. Fast tausend haben schon angerufen, ein Ende ist nicht abzusehen. „Zu vielen Regionen haben wir noch keinen Telefonkontakt“, sagt Hamann. Klar sei jedoch: „Die Versicherung wird bei der Schadensbehebung fast keine Rolle spielen.“ Firmen, die sich gegen Elementarschäden versichert haben, sind die absolute Ausnahme.
Sachsens Finanzminister Horst Metz (CDU) legte gestern eine erste Schadensbilanz vor: 15 Milliarden Euro Schaden seien entstanden, das entspricht etwa dem sächsischen Jahreshaushalt 2003. Auch für die Infrastrukturschäden, die die erste Flut im Erzgebirge verursachte, gibt es Zahlen: 740 Kilometer Straßen und 180 Brücken sind weg oder kaputt. Mit 600 Millionen Euro beziffert das sächsische Wirtschaftsministerium den Schaden allein im Erzgebirge. Dazu kommt noch das, was das Elbhochwasser zerstörte. Die Bahn bilanziert 540 zerstörte Schienenkilometer – ein Fünftel des Streckennetzes im Freistaat. Schaden auch hier: 600 Millionen Euro.
„Die zerstörte Infrastruktur ist für alle Unternehmen in Sachsen ein Problem“, erklärt Sachsens Wirtschaftsminister Martin Gillo (CDU) der taz. Schließlich seien die Lieferwege auch für die Firmen, die davongekommen sind, gestört. Um den Unternehmen wenigstens etwas Spielraum zu verschaffen, hob die Landesregierung für kommendes Wochenende das Fahrverbot für Lkws auf. Viel wichtiger sei aber das Sofortprogramm der Landesregierung. „Als Erstes zahlen wir den betroffenen Unternehmen 500 Euro je Arbeitsplatz“, sagt Gillo. Die Sächsische Aufbaubank koordiniert das. Sicher, ein Strohhalm nur. „Bis gestern Mittag hatten wir über 4.000 Anrufe“, sagt eine Banksprecherin.
„Bei aller angekündigten Unterstützung aus Berlin und Brüssel ist uns klar: Sachsen wird einen ganz erheblichen Eigenbeitrag leisten müssen“, sagt der Wirtschaftsminister. Die Landesregierung hat deshalb ein Vier-Jahres-Wiederaufbauprogramm verabschiedet. Der beschlossene Sparhaushalt? Makulatur. „Es wird ein völliges Umdenken in der Budgetplanung geben – frei von jedem Tabu“, verspricht Gillo. Das heißt: Auch eine Neuverschuldung ist nicht ausgeschlossen. Und das, obwohl erst im März mit Bundesfinanzminister Eichel ein nationaler Stabilitätspakt geschlossen wurde, um den blauen Brief aus Brüssel zu vermeiden. Gillo appelliert an die Banken, unbürokratisch Neukredite zu vergeben, laufende zu stunden.
„Kredite helfen nicht“, sagt IHK-Mann Hamann. „Die meisten Firmen tragen sowieso schon eine hohe Kreditlast. Wenn die weiter erhöht wird, erhöht sich auch das Insolvenzrisiko.“ Unternehmer Gerald Gotthard hat vor acht Jahren das einst volkseigene Pappenwerk übernommen, mit inzwischen 36 Arbeitern erwirtschaftet er 2 Millionen Euro Umsatz. Eigentlich sah er keine Probleme, die 500.000 Euro Zinslast in den nächsten Jahren abzutragen. Das ist jetzt anders. „Außer beschädigten Gebäuden hab ich für einen neuen Kredit keine Sicherheiten anzubieten“, sagt Gotthard. Und, das habe er auch seinen Arbeitern gesagt: „Die Eigenkapitalquote liegt nahe bei null.“
98 Prozent der sächsischen Wirtschaft besteht aus Kleinen und Mittelständlern, deren Geschichte so oder ähnlich geht. IHK-Mann Hartmann sagt deshalb: „Soll in den Flutregionen nicht der Exitus der sowieso alles andere als robusten Wirtschaftsstruktur verhindert werden, helfen nur Zuschüsse.“ Brüssel? „Ich hoffe, die EU hat ein Einsehen.“ Schließlich handele es sich nicht um Subventionen, also nicht um den Wettbewerb einschränkende Mittel.
Edmond Graf arbeitet bei Mauersberger & Frische. Bis vor zehn Tagen war die Metallbaufirma in Nossen mit 70 Angestellten ein wichtiger Arbeitgeber der Gegend. „Bei uns stand das Wasser der Mulde anderthalb Meter hoch“, sagt Graf. Der Schlamm hat sämtliche computergesteuerten Drehmaschinen zerstört, die Firmenleitung musste alle Mitarbeiter entlassen. Graf läuft trotzdem jeden Tag in die Firma, zum Aufräumen. „Vielleicht werden ja ein paar Leute wieder eingestellt“, hofft er. Inständig appelliert das Landesarbeitsamt in Chemnitz, die Leute jetzt nicht auf die Straße zu setzen. „Die Arbeitslosenquote von 17,9 Prozent ist sowieso schon die höchste Arbeitslosigkeit in Sachsens jüngerer Geschichte“, sagt Sprecher Claus Welz. Die Firmen sollten besser in Kurzarbeit gehen. Dank einer Ausnahmeregelung dürften die Kurzarbeiter aufräumen, der Bund übernimmt – anders als im Normalfall – die Lohnnebenkosten. Welz: „Die Betriebe können so wenigstens kostenlos aufräumen.“
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