: Zu spät gewarnt
Die Warnung vor der Jahrhundertflut hätte viel früher kommen müssen, kritisieren Hydrologen.Sie fordern, dass auch in Deutschland endlich ein Fluss- und Flutmanagement aufgebaut wird
von GUDRUN FISCHER
„Überflutungen der Flüsse in Deutschland muss es geben, und zwar mehr als bislang“, sagt der Umweltexperte Martin Rhode vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „Sie müssen nur auf Räume gelenkt werden, wo sie sich austoben können, ohne Schaden anzurichten.“ Und das bedeute, sagt der Experte, zusätzlichen Flutraum. Genügend Flutraum an den Bächen und Flüssen könne zwar nicht alles verhindern. Die Flut in Dresden hätte nach seinem Kenntnisstand nicht verhindert werden können, denn die sächsische Hauptstadt ist eine Engstelle an der Elbe.
Man hätte sehr wohl vorher wissen können, was in Dresden passiert, sagt der dänische Wasserbauingenieur Ole Larsen. Und Vorsorge treffen können. Flutkatastrophen lassen sich mit Hilfe eines systematischen Flutmanagements vermeiden oder zumindest abmildern.
Larsen arbeitet in einer hydrologischen Firma aus Dänemark (DHI), die weltweit umfangreiche Systeme zur Überwachung von Flüssen installiert. „Leider beginnt meist unsere Tätigkeit nicht vor, sondern erst nach einer Flutkatastrophe.“ Beispielsweise arbeitete er in China, nachdem der Gelbe Fluss immer wieder über die Ufer getreten waren. Oder im norditalienischen Piemont nach der verheerenden Überschwemmung im Po-Gebiet vor zwei Jahren.
Ein Beispiel für ein relativ gut gelaufenes Flutmanagement ist Prag in der vorletzten Woche. Zwar konnte der kleine Teil der Altstadt, der rechts der Moldau liegt, nicht vor meterhohem Wasser geschützt werden. Dafür der größere Altstadtteil links der Moldau.
Das Wasser zurück hielten rasch aufgestellte drei Meter hohe Metallwände, für die vor Jahren schon Metallträger am Fluss und an den Straßen versenkt worden waren. Dass über das Grundwasser noch Wasser in die Keller gedrückt wurde, ließ sich nicht vermeiden. Aber immerhin wurde die historische Altstadt vor der Überflutung gerettet. Auch die Kloaken konnten rechtzeitig geschlossen werden, sodass Fäkalien nicht in den Fluss gelangten.
Die Berechnungen für eine mögliche Katastrophe leiteten Larsen und seine Kollegen aus der Hochwasserkatastrophe in Prag von 1890 ab. Was ist aber, wenn eine Katastrophe jedes simulierte Szenario übersteigt?
Wer nun sagt, es wären katastrophale Regenfälle im Erzgebirge gewesen, die zu den Überschwemmungen führten, hat Recht, so Larsen. Im Erzgebirge sind in 24 Stunden rund 350 Liter pro Quadratmeter vom Himmel gefallen. Das heißt, ein 35 Zentimter dicker Wasserteppich ging auf das Gebiet nieder. Diese Menge an Regen bekommen manche Regionen Deutschlands im Durchschnitt über ein halbes Jahr verteilt.
Können gegen so eine Naturkatastrophe Menschen überhaupt etwas ausrichten? Sie können, sagen Larsen und Rhode unisono. Wenn im Erzgebirge die Bäume gesund und nicht abgeholzt wären. Wenn die Humusschicht dick und intakt wäre (nicht durch Wintersport abgetragen). Wenn nicht die vielen Schneisen im Wald den Wassermassen freien Lauf bieten würden. Wenn nicht Bäche und Flüsse begradigt und vertieft wären, hätten die Wassermassen sich nicht so schnell die Berge hinunterbewegt. Denn ein Wald ist wie ein Schwamm, der das Wasser aufsaugt und nur langsam wieder abgibt.
Ist der Schwamm nicht da, kommt es zu schnellen Abläufen, die weiter unten zu einer Flutwelle anwachsen, die sich äußerst schnell aufbaut. Noch während des Regens hätten im Erzgebirge – wären adäquate Messeinrichtungen vorhanden gewesen – Meldungen über die bevorstehende Gefahr an die Öffentlichkeit gegeben werden können. Es war niemand da, der oder die beispielsweise den Menschen an den Talsperren frühzeitig hätte sagen können, sie sollen Wasser herauslaufen lassen. Auch wenn es wertvolles Trinkwasser war.
Wenn die Reservoirs leerer gewesen wären, hätte in den Talsperren ein Teil des Starkregens gesammelt werden können und dann peu à peu – aus jeder Talsperre zu einem anderen Zeitpunkt – abgelassen werden können. Das hätte die Flutwelle verzögert und die Welle wäre niedriger ausgefallen.
Wenn es ein vernünftiges Flussmanagement, wie in Piemont oder in China am Gelben Fluss, auch an der Elbe gegeben hätte, hätten Computersimulationen die Höhe der Flutwelle auf zehn Zentimeter genau vorhergesagt und der Zeitpunkt des Eintreffens der Flutwelle an einem bestimmten Punkt auf eine Stunde genau angegeben werden können.
„Experten können einen Flusslauf so sichern, dass Sicherheit gegen ein Hochwasser, das im Schnitt alle zehn Jahre eintritt, gewährleistet ist oder Sicherheit gegen eine Flut, die so ungewöhnlich groß ist, dass sie nur alle hundert Jahre eintritt.“ Das sei alles nur eine Frage des Preises, erklärt Ole Larsen. Nun müssen statt Millionen für ein Flutwarnsystem Milliarden für die Schadensbeseitigung ausgegeben werden. Dabei hatte schon der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nach der Oder- Hochwasserkatastrophe gesagt, es gäbe nur eine Lösung: mehr Überschwemmungsflächen.
„Passiert ist aber gar nichts“, moniert Martin Rhode. „Dort wo in Deutschland der einzige große Oder-Deichbruch war, wurde danach der Deich an alter Stelle erhöht. Wie eine Betonfestung. Keine einzige Stelle an der Oder wurde zur Retentionsfläche“, beklagt Rhode. Der BUND sieht als Grund „die Beharrlichkeit des Besitzstandes“ und nicht nur die Kostenfrage. Die Wiederherstellung des Deiches hat sicher weit mehr gekostet, als das Gebiet, in das das Oderwasser geflossen war, längerfristig als Überflutungsfläche auszuweisen. Mitsamt den dafür nötigen Umsiedlungen und Entschädigungszahlungen.
Dass es in Deutschland keinen naturbelassenen Fluss mehr gibt, hat seine Ursache in der Wasserschifffahrt. Das Entwässerungsbestreben und die Flurbereinigung der Landschaft taten ein Übriges. „Dadurch wurden erhebliche Teile unserer Landschaft massiv umgestaltet.“
Der BUND-Experte fasst die sieben Punkte zusammen, die Überflutungen verhindern helfen könnten: mehr Überflutungsflächen einrichten, Deiche verbessern, die Retentionsfunktion in den Oberläufen wiederstellen, Flussbegradigungen zurücknehmen, Wiederaufforsten von Berghängen, landschaftliche Ackerfläche in Grünland umwandeln und die Flächenversiegelung stoppen.
Den letzten Punkt hält Rhode für einen der wichtigsten: 150 Hektar pro Tag werden in Deutschland durch Bebauung versiegelt, das sind 300 Fußballfelder pro Tag, in denen kein Wasser mehr versickern kann.
In diesen Punkten wären sich die beiden Experten einig. Larsen würde nur noch die computerbegleitete Simulation und das Frühwarnsystem hinzufügen, das von der Bevölkerung und von den Medien im Internet einsehbar wäre, so wie es in Norditalien möglich ist. Einig sind sich beide auch in der Hoffnung auf die EU-Wasserrahmenrichtlinie, die ein deutsches Grundproblem beseitigen wird: dass nämlich unterschiedlichste Behörden an unterschiedlichen Stellen eines Flusses die unterschiedlichsten Maßnahmen ergreifen, ohne sich zu koordinieren.
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